"Bestrafungskriege treffen unschuldige Dritte"

Reinhard Merkel im Gespräch mit Katrin Heise · 18.09.2013
Man dürfe nicht auf der Seite bewaffneter Rebellen einen Bürgerkrieg anheizen, sagt der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel. In Syrien nähere sich die Situation gleichwohl der "Schwelle des Unerträglichen", weshalb eine humanitäre Intervention diskutabel sei.
Katrin Heise: Zugegeben, die Erleichterung war groß, als durch behändes Eingreifen Russlands die Diplomatie in Sachen Syrien eine Chance erhielt. Militärisches Eingreifen des Westens in Syrien ist erst mal aufgeschoben, und US-Präsident Obama konnte trotz überschrittener roter Linie sein Gesicht wahren. Die Chemiewaffen Syriens sollen unter internationale Kontrolle gestellt werden, um die für die Umsetzung des Planes vorgesehene Entscheidung des UNO-Sicherheitsrats wird allerdings noch gerungen. In der Zwischenzeit sterben weiter täglich Syrer in den Auseinandersetzungen. Ich begrüße jetzt Professor Reinhard Merkel. Er ist Rechtsphilosoph an der Universität Hamburg und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Ich grüße Sie, guten Morgen, Herr Merkel.

Reinhard Merkel: Guten Morgen.

Heise: Ist es momentan Ihrer Meinung nach ein gangbarer Weg oder laviert sich der Westen da eigentlich aus der Verantwortung?

Merkel: Nun, ein gangbarer Weg für allerlei erstrebenswerte Ziele ist das schon. Zunächst einmal, dass der Krieg, die Intervention vermieden worden ist, das liegt auf der Hand. Aber ich glaube, dass das ein Lehrstück für die künftige Entwicklung einer vernünftigen Diplomatie sein könnte, die nicht nur im Modus von Macht, Drohung und Gewalt agiert, sondern die darauf aufmerksam macht, dass man besser an sein Ziel kommt, wenn man das verwendet, was in der Diskussion sogenannte Soft Power heißt. Oder andere Wege, etwa ökonomische Diplomatie et cetera. Wir müssen weg von dem Modus der schieren militärischen Gewaltanwendung.

Heise: Wobei aber doch die Drohung Obamas, wird ja von vielen Seiten gesagt, dem Ganzen erst den nötigen Druck verliehen hat.

Merkel: Ach, das ist offensichtlich unrichtig. Natürlich muss Obama das sagen, und jeder gönnt ihm sozusagen diesen Weg des Face Savings, aber selbstverständlich hätte Syrien nicht reagiert, wenn Russland auf diese Weise nicht diplomatisch interveniert hätte, sondern hätte sich weggeduckt unter dem Schlag, jedenfalls das Regime Assad, unter dem Schlag, der angekündigt war von Seiten der Amerikaner, der zu nichts geführt hätte, was in irgendeiner Weise diesen Bürgerkrieg auf einen besseren Weg zu einem vernünftigen Ende hätte bringen können.

Heise: Über die Wege, die möglichen oder auch nicht, sprechen wir noch. Ich würde gerne ein bisschen mehr an den Anfang schauen. Ihrer Meinung nach besteht die Verantwortung des Westens ja nicht aus dem späten Eingreifen in diesen Bürgerkrieg, sondern eher aus dem Gegenteil. Weil nämlich durch Parteinahme für die Assad-Gegner aus einem Aufstand ein Bürgerkrieg gemacht wurde – warum?

Merkel: Warum ich die Dinge so sehe? Das kann ich Ihnen sagen. Zunächst einmal ist es, und das betrifft das positive Völkerrecht, illegal, in einem Bürgerkrieg zu intervenieren ohne Sicherheitsratsbeschluss und aufseiten aufständischer Rebellen. In jedem Staat der Welt werden aufständische Rebellen zunächst einmal als Kriminelle behandelt, nämlich als Terroristen. Man hat in einem Bürgerkrieg nicht zu intervenieren. Und das hat der …

Heise: Mit Intervention meinen Sie vor allem auch Waffenlieferungen?

Merkel: Die Waffenlieferungen, einerseits, die Duldung dessen, was Saudi-Arabien, Türkei und Katar gemacht haben, und andererseits die Übernahme logistischer Aufgaben der Verteilung dieser Waffen vonseiten der USA. Das ist skandalös. Und das ist eine tiefe Mitschuld an diesem katastrophalen Geschehen in Syrien, die der Westen auf sich geladen hat.

Heise: Sie nennen den bewaffneten Kampf der Rebellen illegitim. Aber es waren doch Assads Truppen, die auf das eigene Volk geschossen haben. Ich erinnere noch die Videos von Verhaftungen, von Folterungen, härtestes Durchgreifen bei Demonstrationen.

Merkel: Richtig.

Heise: Dann die Bewaffnung der Rebellen – vorher waren es friedliche Demonstranten. Es waren dann Militärs, die ob dieser Gewalt zu den Rebellen überliefen, genau. Wäre es wirklich am Westen gewesen, zu beurteilen, ob sich diese Rebellierenden mit Waffengewalt gegen den Unterdrücker Assad zur Wehr setzen dürfen?

Merkel: Nun, aber ja, ganz gewiss. Bevor ich eine bewaffnete Aufstandsbewegung unterstütze, habe ich zu klären, ob der Aufstand legitim ist. Und er wird nicht allein dadurch legitim, dass er sich gegen ein illegitimes Despotenregime richtet. Schauen Sie, was geschehen wäre, liegt auf der Hand: Wenn es nicht zum bewaffneten Aufstand gekommen wäre, Assad hätte das mit brutalen Mitteln blutig erst einmal niedergeschlagen. Heute haben wir 120.000 Tote. Und wenn dieses gespenstische Geschehen irgendwann zu Ende sein wird, werden es Zehntausende mehr sein.

Jurist Reinhard Merkel, Mitglied im Deutschen Ethikrat
Reinhard Merkel© dpa / Hermann Wöstmann
"Nicht Widerstand in jedem Modus üben"
Das haben natürlich beide Seiten zu verantworten, aber selbstverständlich auch die Rebellen, die zu den Waffen gegriffen haben. Der Westen hätte das zu klären gehabt. Abgesehen, noch einmal, vom Völkerrecht, das da ganz unmissverständlich klar ist, man darf nicht auf Seiten bewaffneter Rebellen einen Bürgerkrieg anheizen. Und dafür gibt es gute ethische, politisch-ethische Gründe. Das Missverständnis in den westlichen Medien scheint mir zu sein, dass man sagt: Das ist doch ein Schurke, der Assad, und dagegen darf man doch Widerstand üben. Ja! Aber nicht Widerstand in jedem Modus. Nicht im Modus eines Bürgerkriegs, der allen anderen in Syrien mit aufgezwungen wird, die vielleicht dagegen gewesen sind.

Heise: Gibt es eine Rechtfertigung für einen blutigen Bürgerkrieg? Sie sagen, in dem Fall noch nicht. Gibt es irgendwelche Opferzahlen oder was, die man anlegt, um zu sagen, jetzt ja?

Merkel: Wissen Sie, es gibt natürlich kein mathematisches Instrument, das genau zu kalkulieren. In Syrien, habe ich gesagt, war die Schwelle auf gar keinen Fall erreicht. Das war ein Despotenregime immer gewesen, aber längst nicht von der finsteren Art, wie wir es in Saudi-Arabien oder in Katar erleben, natürlich nicht. Und die Frage, wann ein Widerstand gegen ein Despotenregime zum bewaffneten Bürgerkrieg greifen kann, ist in der politischen Philosophie leider seit 200 Jahren, seit Immanuel Kant unterbelichtet, zu wenig diskutiert.

Aber ich würde sagen, es gibt offensichtliche Fälle. Wenn wir ein klar genozidales Regime haben, das eine Gruppe der eigenen Bevölkerung in organisierten Massenmorden auslöschen will; die Situation in Nazi-Deutschland war die Situation eines legitimen bewaffneten Aufstands, abgesehen von der Unmöglichkeit, das damals so durchzuführen. Aber jedenfalls in Syrien nicht. Um das deutlich sagen zu können, brauche ich kein exaktes Kalkül, das genau angibt, ab welcher Schwelle der Unterdrückung der Widerstand zum Bürgerkrieg greifen kann.

Heise: Und wann der Westen da eingreifen kann, das sehen ja andere ganz anders als Sie. Der Völkerrechtler Matthias Herdegen zum Beispiel würde den Schutz der Menschenrechte mal höher gewichten als den Rückzug, sich nicht einmischen zu können.

Merkel: Ich habe Herrn Herdegens Artikel in der "FAZ" gelesen. Das ist einfach falsch. Selbstverständlich ist der Schutz der Menschenrechte ein ganz wichtiges Anliegen des Völkerrechts, auch der UNO-Charta, aber Herdegen verwischt schon, ganz bewusst offensichtlich, den Unterschied zwischen einer Intervention, wie sie angekündigt war zur Bestrafung eines Giftgaseinsatzes in Syrien, und zweitens der ganz anderen Art der Intervention zur Beendigung eines blutigen Bürgerkriegs. Das Letztere mag ja diskutabel sein, nur kann das nicht in dem Modus geschehen, wie Obama das als Bestrafungskrieg, als Reaktion auf den Giftgaseinsatz angekündigt hat. Herdegen ist in diesen Dingen unklar, und im Übrigen, ganz deutlich sage ich das, ich bin Rechtsphilosoph, er ist Völkerrechtler, aber da müssen sich die Völkerrechtler von den Rechtsphilosophen etwas über die Fundamente der Legitimität erzählen lassen. Was Herdegen geschrieben hat, ist offensichtlich unrichtig.

Heise: Mit dem Rechtsphilosophen Reinhard Merkel spreche ich über die Situation Syriens. Herr Merkel, Sie haben sich dahingehend geäußert, dass die russische Außenpolitik momentan vernünftig und geschickt ist, mal abgesehen sicher vom Verfolgen eigener Interessen Russlands. Hat Russland nicht bis zu dem Zeitpunkt durch sein Veto beispielsweise, immer wieder Sanktionen verhindert, eine andere Art der Diplomatie?

Merkel: Das ist schwer zu sagen. Die Versuche, im Sicherheitsrat zu einer Resolution zu kommen seitens der drei westlichen Vormächte, waren erkennbar gekoppelt immer an die Möglichkeit, eine Resolution nach Kapitel 7 der UNO-Charta mit der Eröffnung der Möglichkeit von Gewaltanwendung zu kriegen, und das hat Russland nach dem Lehrstück von vor zwei Jahren aus Libyen mit guten Gründen blockiert. Ich will hier nicht Herrn Putin besonders applaudieren. Der hat sein eigenes Blut sozusagen, das Blut seiner eigenen Landsleute an den Fingern, in Tschetschenien und in anderen Zusammenhängen. Aber was Russland hier in Syrien gemacht hat, ist jetzt die einzig vernünftige Diplomatie gewesen.

"Eine Art der Kollektivbestrafung"
Heise: Und jetzt gucken wir mal, wie es weitergehen könnte. Wäre also ein Militärschlag aus Ihrer Meinung heraus sicherlich nicht die richtige Möglichkeit, um Fakten zu schaffen für einen Neuanfang, nehme ich an?

Merkel: Man muss tatsächlich unterscheiden, wie ich das vorhin angedeutet habe. Der angekündigte Bestrafungskrieg ist rundum, in jedem Belang, illegitim. Das, was die Amerikaner angekündigt hatten, wäre ein gravierender Verstoß nicht nur gegen das Völkerrecht, sondern gegen die politische Ethik gewesen. Bestrafungskriege treffen unschuldige Dritte. Sie sind eine Art der Kollektivbestrafung. Wo gibt es denn, wenn ich das salopp formulieren darf, wo gibt es denn so was, dass man auf das Begehen eines schweren Verbrechens mit einem Krieg reagieren darf, der Unschuldige tötet. Das geht nicht. Aber die Intervention, eine Intervention zur Beendigung des Bürgerkriegs in Syrien wäre eine andere Geschichte. Wir erreichen allmählich die Schwelle des Unerträglichen, was dort geschieht, wo eine humanitäre Intervention klassischer Provenienz diskutabel wird.

Heise: Also die Feinde trennen quasi durch Armeeeinsatz.

Merkel: Ja. Intervenieren und die ineinander verbissenen feindlichen Parteien zu trennen. Aber man sieht schon, wenn man das so formuliert, was das erfordern würde. Das geht nicht im Modus von Libyen, also Bombardieren aus der Luft und sich zur Luftwaffe einer der Bürgerkriegsparteien zu machen, das geht nicht. Das geht auch deshalb nicht, weil es auf Seiten der Rebellen keine klare Partei mehr gibt, sondern eine große Menge von Schurken und Leuten, die die USA nicht an der Macht sehen wollen.

Heise: Man müsste danach Syrien auch unter Verwaltung stellen?

Merkel: Man müsste intervenieren mit Bodentruppen, man müsste mit einer riesigen Übermacht einmarschieren. Man müsste das Land befrieden, das heißt, mindestens für die nächsten zehn Jahre unter eine Art internationales Protektorat stellen. Das würde Tausende Milliarden US-Dollars kosten – kein Land der Welt denkt daran. Das ist eine politische Utopie. So was wäre aber jetzt diskutabel. Und der Westen sollte sich überlegen, ob es kleinere Schritte vielleicht auf diesem Weg geben kann. Ich hoffe, jetzt, nach der Einleitung des diplomatischen Wegs, dass auf dem Weg zu einem Erfolg gekommen wird.

Heise: Und damit gleichzeitig dann die Überstellung von Verantwortlichen nach Den Haag an den Internationalen Gerichtshof?

Merkel: Richtig. Auch dafür brauchen wir eine Resolution des Weltsicherheitsrats. Den Haag kann nicht von sich aus Assad anklagen oder wen immer in Syrien, weil Syrien nicht Partei des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs ist. Aber der Weltsicherheitsrat kann die Angelegenheit in Syrien überweisen an den Strafgerichtshof. Und dafür würde man eine Mehrheit mit der Zustimmung aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats ganz sicher kriegen.

Der nächste Schritt müsste sein und muss sein, und meine Prognose ist, der wird sogar kommen, dass der Sicherheitsrat die Sache nach Den Haag überweist mit dem Auftrag, den Giftgaseinsatz aufzuklären, alle Staaten der Welt verpflichtet, mit dem Strafgerichtshof zu kooperieren, also ihre Erkenntnisse vorzulegen, und dann haben wir einen ersten Schritt der Weltgemeinschaft, der ein gemeinsamer Schritt wäre, nämlich über den Sicherheitsrat, und dann haben wir vor allem die Möglichkeit, dieses schwere Kriegsverbrechen, das dort geschehen ist, angemessen zu ahnden.

Heise: Danke schön, Professor Reinhard Merkel, Rechtsphilosoph der Uni Hamburg und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Herr Merkel, danke für das Gespräch.

Merkel: Gerne.
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