Besser scheitern

28.08.2008
Fehler gelten in Künsten und Wissenschaften nicht mehr (nur) als Sackgasse, sondern auch als Wendepunkte. Am Scheitern interessiert zunehmend das, was zur Voraussetzung von Erfolg werden kann. In "Fehler im System" haben die Herausgeber Felix Philipp Ingold und Yvette Sánchez kulturwissenschaftliche Aufsätze zur Poetik des Scheiterns und zur Fehlerästhetik zusammengetragen.
Am 23. Juni 1803 versuchte Alexander von Humboldt, den Vulkan Chimborazo zu besteigen. Er erhaschte im Nebel einen Blick auf den Gipfel, erreichte ihn jedoch nicht, weil eine unüberwindbare Felsspalte im Weg war. Wie Ottmar Ette zeigt, gewann Humboldt der natürlichen Barriere in seinem Reisetagebuch etwas Produktives ab. Er bildete die Spalte im Schriftbild nach, indem er eine achtseitige Lücke ließ und andere Textteile einfügte.

Ette betrachtet Humboldts Kunst des Scheiterns, die sich in dessen gigantischem, aber an keiner Stelle restlos abgeschlossenen Werk spiegelt, als regelrechte "Lebenskunst": "Sie zielt auf das Glück, keinen Gipfel zu erreichen." Indem Ottmar Ette den vermeintlichen Indienfahrer Kolumbus hinzuzieht, kann er überzeugend nachweisen, wie Fehler und Irrtümer "in der Netzwerkstruktur der Wechselwirkungen neues Wissen generieren".

Gerade noch vertieft in Humboldt und Kolumbus, steht dem Leser als nächstes Ulrike Landfesters Arbeit über "Die Poetik der schöpferischen Katastrophe in Günter Grass’ Autobiographie" bevor, worin der Zweite Weltkrieg zum schriftstellerisch produktiven Unglück umgemünzt wird.

Und der dritte Aufsatz wechselt in ein völlig anderes Milieu. Ausstellungsmacher Paolo Bianchi beschreibt das Künstlerpaar "fehlerpfleger" (Simone Kurz und Markus Häberlin), das im Baseler Bürgerspital mit Behinderten Kunstwerke erzeugt, die "ohne perfekt zu sein, einfach gut" sind - wobei gerade die Fehlertoleranz zu besonders packenden Ergebnissen führt.

Andere Aufsätze weisen das Schöpferische am Fehlerhaften für das Tanztheater, den Film und die Lyrik nach. Fast immer geht es um Misslingen auf solidem Niveau, selten um Pannen aus Mangel an Talent oder handwerklichem Können.

Polemisch wird der Sammelband im Aufsatz des Journalisten Thomas Rothschild, der behauptet: "Das Elend des deutschsprachigen Literaturbetriebs hat einen Namen. Es heißt Marcel Reich-Ranicki." Den Kunstwissenschaftler Hans Ulrich Reck interessieren die Entstellungen im politisch-medialen System. Seine Tagebuchaufzeichnungen über "unbeeinflussbares Ärgernis und ermüdende Verletzung zivilisatorischen Empfindens" werfen die Frage auf, ob dass System nicht der größte Fehler ist. Den Band schließt der bisher unveröffentlichte Aufsatz "Risiko und Gefahr" von Niklas Luhmann ab.

Wie in Sammelbänden nicht unüblich, muss sich der Leser den roten Faden in "Fehler im System" manchmal selbst weben. Er sollte überdies furchtlos sein, wenn hier und da harte Theoriebegriffe auftauchen. Insgesamt eröffnen die Aufsätze eine subversive Sicht auf das dominierende, oft autoritäre Erfolgs- und Effizienzdenken à la "the winner takes it all".

Das Werk reizt dazu, den plumpen Gegensatz von "fehlerhaft" und "richtig" abzuschütteln und Scheitern innerhalb kultureller Produktivität als Nährboden des Gelingens zu begreifen. Samuel Beckett dichtete ziemlich makellos:

"Ever tried, ever failed.
No matter
try again, fail again,
fail better."


Rezensiert von Arno Orzessek

Felix Philipp Ingold und Yvette Sánchez (Hrsg.): Fehler im System. Irrtum, Defizit und Katastrophe als Faktoren kultureller Produktivität
Wallstein Verlag, Göttingen, 2008
382 Seiten, 43 Abbildungen, 24,90 Euro