Bertrand Gatignol und Hubert: "Petit: Riesen wie Götter"

Wo Menschen als Leibspeise gelten

Auszug aus Bertrand Gatignols und Huberts Graphic Novel "Petit: Riesen wie Götter"
Auszug aus Bertrand Gatignols und Huberts Graphic Novel "Petit: Riesen wie Götter" © REPRODUKT / Bertrand Gatignol und Hubert
Von Frank Meyer · 11.01.2016
Mit ihrer Graphic Novel "Petit. Riesen wie Götter" führen der französische Zeichner Bertrand Gatignol und Autor Hubert ihre Leser in eine faszinierende Welt der Riesen - und erschaffen eine vielseitig deutbare Parabel über Macht und Größenwahn.
Eine gotische Kathedralenburg thront drohend über einer schroffen Felsenlandschaft. Im Chor der Kathedrale wimmeln winzige Diener um eine riesige Tafel, an der Riesen sitzen, gewaltige Wesen, in ihren Schüsseln: tote Menschen, die sich die Riesen zwischen die mächtigen Zähne schieben.
Menschen sind ihre Leibspeise, sie werden auf einer eigenen Farm gezüchtet und nach der Güte und Marmorierung ihres Fleisches für die Tafel der Riesen ausgewählt.
Willkommen in der Welt, die der französische Zeichner Bertrand Gatignol und der Textautor Hubert (alias Hubert Boulard) erdacht haben. Mit ihrer Graphic Novel "Petit. Riesen wie Götter" erzählen sie eine vielseitig deutbare Parabel über Macht und Größenwahn, Familie und Grausamkeit, Väter und Söhne.
Die Hauptfigur, Petit, ist der Sohn des gewaltigen Königs Gabaal, ein Kind mit einem unübersehbaren Makel: Er ist viel zu klein. Der König der Riesen will ihn deshalb gleich nach der Geburt töten lassen, aber die gleichfalls übergroße Königin versteckt das Kind in ihrem Mund und bringt ihn in Sicherheit, um ihn versteckt aufwachsen zu lassen. Sie hat eigene Pläne mit ihrem Sohn: Petit soll sich mit Menschen paaren und damit das von Inzucht zerrüttete Riesengeschlecht erneuern.
Wie Radierungen aus dem 19. Jahrhundert
Bertrand Gatignol erzählt dieses schauerlich düstere Märchen in faszinierenden schwarz-weißen Zeichnungen. Er arbeitet mit scharfen Kontrasten, mit gestochen scharfen Formen und vielen Anklängen an die Kunstgeschichte.
Seine Bilder erinnern an die Architekturstudien Giovanni Battista Piranesis und an die Karikaturen von Aubrey Beardsley, an Radierungen aus dem 19. Jahrhundert oder an japanische Landschaften. Gatignol macht aus all dem kein eklektizistisches Gemisch, sondern eine eigene Bilderwelt, in der vor allem die überaus präzise gezeichneten Bauten und Räume beeindrucken.
Das Riesengeschlecht lebt in einer gigantischen, halb zerfallenen Palaststadt, die vor ihnen noch viel größere Wesen bewohnt haben. Der "Gottkönig" war der gewaltigste in dieser Reihe, ein so großer Mann, dass er sich auch dem Tod überlegen fühlte, bis der über die Berge stieg, in den Händen "eine Sense, deren Blatt breit war wie der Horizont."
Befreiung von seiner Herkunft
Die Geschichte dieses Gottkönigs und anderer Generationen von Riesen wird in einer eigenen Chronik erzählt, die Hubert und Gatignol in die Geschichte von Petit eingebettet haben. So wird aus dem Märchen von Petit die Legende von einer Familie, die sich so lange an ihrer Macht berauscht, bis die Wirklichkeit sie einholt.
Man kann Petits Geschichte aber auch lesen als Erzählung von jedem Kind, das sich von seiner Herkunft, von Vätern und Müttern befreien muss. Wie auch immer man Huberts und Gatignols "Petit" versteht, die expressiven Bilder dieser Graphic Novel bekommt man lange nicht aus dem Kopf.

Bertrand Gatignol und Hubert: "Petit: Riesen wie Götter"
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock
Reprodukt Verlag, Berlin 2015
176 Seiten, 29,00 Euro

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