Berliner Schaubühne in Indien

Abrechnung mit dem westlichen Lebensstil

Szenenbild der Ostermeier-Inszenierung von Henrik Ibsens "Ein Volksfeind"
© Deutschlandradio Kultur / Susanne Burkhardt
Von Susanne Burkhardt · 28.02.2015
Polit-Debatten mit dem Publikum, Schauspieler im Hipster-Outfit: Die Klassiker-Inszenierungen von Thomas Ostermeier sind eine ganz eigene Marke. Jetzt reiste der Schaubühne-Regisseur mit seiner Truppe auf Einladung des Goethe-Instituts nach Indien, um seine Version von Ibsens "Volksfeind" vorzustellen.
Delhi. National School of Drama. Fast alle Bollywood-Stars haben hier studiert. Es ist der letzte Tag des 17. Bharat Rang Mahotsav, des großen internationalen Theaterfestivals. Noch einmal steht Ibsens "Volksfeind" auf dem Programm.
Ein Stück, dass das indische Publikum gut kennt, geht es doch um Korruption – ein Thema, dass im politischen Alltag Indiens an der Tagesordnung ist: Kurarzt Dr. Stockmann entdeckt, dass das Wasser seines Heilbades vergiftet ist. Die Lokalpolitik will den Umweltskandal vertuschen und setzt dafür die Presse unter Druck.
Ostermeier lässt das Stück im westlichen Hipster-Milieu spielen
Nach einer indischen Produktion des "Volksfeindes" zu Beginn des Festivals kommt nun zum Schluss die deutsche Version des Dramas auf die kleine Bühne der Schauspielschule. Ostermeier lässt das Ibsen-Stück im westlichen Hipster-Milieu spielen. Passend dazu stellt der Regisseur dem Ibsen-Text ein Manifest zur Seite: "Der kommende Aufstand". Eine flammende Revoluzzer-Zeitgeist-Rede, die Dr. Stockmann, gespielt von Christoph Gawenda, vor 230 Zuschauern hält.
Gawenda:"Leben gegen Cash. Meine Selbstfindung, mein Blog, meine Wohnung. Angesagter Scheiß. Was es nicht alles an Prothesen braucht, um ein Ich zusammenzuhalten."
Das Publikum in Delhi liest die Abrechnung mit dem westlichen Lebensstil auf englischen Übertiteln mit.
Gawenda:"Der schlimmste Feind der Wahrheit ist diese scheißliberale Mehrheit."
Dann soll abgestimmt werden: Jeder, der wie Stockmann denke, solle die Hand heben und erklären, warum.
"Sie sind Scheiße"
David Ruland: "Ich mache jetzt einen Test mit Ihnen. Ich möchte, dass jeder der seine Meinung teilt seine Hand hebt. 'Cause you are shit!"
"Sie sind Scheiße." Das geht den Schauspielern dann doch zu weit. Die Zuschauer in Delhi schlagen sich eindeutig auf die Seite des aufmüpfigen Aufklärers.
Zuschauer:"Weil er die Wahrheit sagt."
Zuschauer stellen einen Bezug zum eigenen Land her
Er sage die Wahrheit und mache, was ein normaler Mensch eben machen sollte. Ein Zuschauer stellt den Bezug zum eigenen Land her, überall kämpften die Leute gegen das System, weil sie genug davon hätten. Darum ginge es in Stockmanns Rede, um Rechte und Menschlichkeit.
Frau: "Er macht das, was ein normaler Mensch machen sollte."
Mann: "Das ist, was hier in Indien auch geschieht und in der ganzen Welt. Überall kämpfen die Leute gegen das System, weil sie genug davon haben. Und davon redet er. Das ist völlig richtig, es geht hier um Rechte und Menschlichkeit."
Jetzt legt das indische Publikum richtig los
Aber auch die Schauspieler werden angegangen: "Warum drucken Sie nicht einfach den Artikel und lassen die Leute in Leserbriefen darauf reagieren", fragt eine Frau aus dem Publikum. Ihre Nachbarin vergleicht die Umstände im Kurbad mit Tschernobyl, eine andere verlangt erneut, die Fakten zu veröffentlichen.
Die Frage nach dem Preis der Wahrheit bleibt unbeantwortet
Dann die Frage an den Aufklärer Stockmann, warum er sich von Zeitungen abhängig macht, statt den Text ins Netz zu stellen oder zu twittern. Er twittere eben nicht, sagt dieser leicht beschämt. Die Realität eines vernetzten Publikums trifft auf die Bühnenwelt des 19. Jahrhunderts.
Als ein Zuschauer dann den Fall Stockmann mit der Situation des Whistleblowers Edward Snowden vergleicht und sich besorgt zeigt um Stockmann und dessen Familie, nutzt Schauspieler Christoph Gawenda den Moment, und kehrt zum Stück zurück und ins Deutsche. Ein bisschen schade. Denn so bleibt die Frage nach dem Preis der Wahrheit unbeantwortet.
Stückende. Nach kurzem Applaus im Stehen verlässt das Publikum den Saal. Die meisten von ihnen sind Theaterleute. Neben mir steht Maja Krishna Rao, Tänzerin, Schauspielerin, Comedian. Ich frage sie nach der Stockmann-Rede.
Rao:"Das sind alles so universelle Themen. In den vergangenen zwanzig Jahren ist die Globalisierung so weit vorangeschritten, die Art und Weise wie Menschen auf ökonomische Phänomene reagieren. Ich glaube sogar, die Reaktionen der Leute sind globalisiert, auch wie man auf Ereignisse wie so ein Theaterstück reagiert. Ich denke, selbst das ist heute globalisiert. Und das macht mir Angst."
Ina Roß, deutsche Dozentin an der National Drama School in Delhi sieht dagegen wenig Relevanz in der Stockmann-Rede für das indische Publikum:
"Das Problem der Vereinzelung, das gibt es hier nicht in Indien. Die Familie spielt die größte Rolle. Die Familie ist der Kern des Ganzen. Also diesen Konflikt gibt es hier nicht. Das sind schon Luxus-Probleme."
Theater Bazar beim Theaterfestival in Dehli.
Theater Bazar beim Theaterfestival in Dehli.© Deutschlandradio Kultur / Susanne Burkhardt
Ein Zeugnis europäischer Hybris?
Und wie haben die Schauspieler das auf der Bühne erlebt? Ingo Hülsmann spielt Stockmanns Bruder Peter, einen aalglatten Politiker und Machtmenschen.
Hülsmann:"Mein Eindruck war auch, dass diese Themen hier gar nicht durchdringen. Es ist ein echtes Luxusproblem – auch mit diesen Fragen zu kommen, wenn 600 Millionen Menschen auf der Straße schlafen und dann die Frage zu stellen, ist die Familie noch das richtige Lebensmodell. Das ist echt absurd und zeugt von einer europäischen Hybris, mit diesen Dingen die Welt reformieren zu wollen. Das ist eine typisch europäische Hybris zu glauben, damit einen kommenden Aufstand auf der ganzen Welt auszulösen. "
Ein Zuschauer ist begeistert von der für ihn ganz neuartigen Form der Inszenierung, vom Mitmachfaktor: Dass man als Zuschauer Position beziehen müsse, gefällt ihm. Gleichzeitig sei er schockiert gewesen, zu erfahren, wie anders die Leute neben ihm denken würden.
Ross: "Das ist ja schon ein Kompliment an die Schauspieler, das Publikum hat es komplett ernst genommen und hat die beschimpft und Partei ergriffen. Das ist einer der Vorteile des indischen Publikums. Die können sich da toll reinversetzen. Das war auch heute toll, und die Schauspieler haben das sicher genossen."
"Das ist viel zu platt"
Dem Publikum gefällt, dass sich die Inszenierung plötzlich öffnet, also mehr ist, als das sonst aus Europa importierte typische stocksteife Guckkastentheater.
Roß:"Dieses Guckkastentheater, das ist ein westliches Konzept, das ist koloniales Erbe, von den Briten gebracht. Theater in Indien, das ist eine Mischung aus Tanz und Puppenspiel, reines Theater ist hier kaum zu sehen. Ein Schauspieler muss hier immer singen, tanzen, Pantomime. Das ist wichtig. Der Text ist dabei nicht so im Vordergrund. Diese Theaterhäuser gibt es nur in den Zentren, denn normalerweise wird auf der Straße gespielt. Man arbeitet mit großen Gesten, um Effekte zu erzielen."
Abilash Pillai ist ein Kollege von Ina Roß. Ihn hat die Vorstellung zwar berührt und nachdenklich gemacht aber grundsätzlich geht ihm der Abend nicht weit genug.
Pillai:"Das alles habe ich schon im Theater gesehen. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, für mich ist das hier durchgefallen. Dieser ganze öffentliche Politik-Diskurs mit dem Publikum, das funktioniert schon im Fernsehen nicht – genauso wenig hier. Im Stück selbst gibt es eine viel tiefere Dimension der Auseinandersetzung, das haben wir hier nicht, das ist viel zu platt. Alle sagen irgendwas, aber wissen wir, ob jeder meint, was er sagt? Vielleicht sagt er das ja nur, um mitzudiskutieren. Von Deutschland erwartet man viel mehr. Da kommt so viel gutes politisches Theater her wie das von Bertolt Brecht. Also erwartet man, dass hier richtig viel passiert. Und das fand dann nicht statt."
Brechts großer Einfluss auf das Theater in Kalkutta
Auf Brecht stößt man immer wieder in Indien. Besonders in Kalkutta. Die zweite Station des Schaubühnen-Gastspiels. Warum? Das erklärt mir dort Theaterregisseur Vinay Sharma. Seit über 30 Jahren leitet er hier ein kleines Theater. Mehr als 120 solcher Gruppen gibt es allein in Kalkutta. Sie spielen zum Teil in Bengali, zum Teil in Englisch.
Sharma:"Brecht spielte eine bedeutende Rolle für die Theaterleute in Kalkutta und in Bengalen. Noch immer ist er für eine Reihe von Bengal-Theatergruppen sehr wichtig, denn vor 35 Jahren gab es hier eine kommunistische Regierung. Brechts Ideen passten einfach gut dazu."
Kalkutta, Samstag. Vor dem Kala Mandir – einer Spielstätte im Zentrum. Eine Stunde vor Vorstellungsbeginn reihen sich Wartende um mehrere Häuserblöcke. Normalerweise kostet ein Theaterticket zwischen 50 und 100 Rupien, von 70 Cent bis 1, 40 Euro. Heute ist der Eintritt frei. 1100 Plätze gibt es. Unter den Wartenden viele Theaterleute, Filmemacher und Künstler. Nirgendwo sonst in Indien ist die Kulturszene so lebendig wie hier in der einstigen indischen Hauptstadt.
Frau: "Ich interessiere mich fürs Theater, und weil ich hörte, dass viele kommen würden, bin ich schon früher gekommen."
Griff in den Argumente-Baukasten
Jeder, den ich frage, ist gekommen, weil er sich für Theater interessiert, einige haben schon mal ein deutsches Gastspiel gesehen. Zum Beispiel "Henry V." im Max-Mueller-Bhavan, wie das Goethe-Institut in Indien heißt.
Im Saal probt Thomas Ostermeier. Die Stimmung ist schlecht: Ein Schauspieler ist krank und muss die Probe schwänzen, der Vorhang ist zerknittert, die Leiter lässt sich nicht zusammenklappen und das Puppenbaby schreit zu früh. Normale Probleme bei einem Gastspiel. Und vergessen, sobald der Saal gefüllt ist. Fürchtet er sich vor so einer Aufführung? Das frage ich David Ruland, der die Diskussion mit dem Publikum später leiten und dabei spontan reagieren muss.
Ruland: "Ich hab so ein Gerüst, so ein Argumente-Baukasten. Nach fast 130 Vorstellungen weiß man schon, wie man reagiert, wie man Themen setzt. Und irgendwie ist es eine erschütternde Erfahrung, dass man als Mensch, der eine politische Debatte führt, gar nicht alles verstehen muss. Es kommt oft vor, dass ich nicht alles verstehe im Englischen, so wie ein Politiker, der was gefragt wird und dann sagt: 'Das Thema ist nicht ganz falsch.' Dann setze ich einfach ein anderes Thema. Das ist eine krasse Erfahrung, wenn man das selber macht. Aber nach 130 Vorstellungen hat man so Pfeile, die man abschießen kann."
An diesem Abend in Kalkutta geht es schnell hoch her. Aber jetzt wird nicht das Thema des Stücks diskutiert, wie in Delhi, sondern Stockmanns Abrechnung mit dem System. Zunächst ein Votum für die Familie als Basis der Gesellschaft, dann Konsumkritik.
Konsumkritiker contra Konsumverteidiger
Es wird unübersichtlich. Die Schauspieler sind in die Diskussion vertieft, statt sie zu moderieren oder gezielt zu provozieren. Also steuert das Publikum selbst die Debatte und hakt nach: Was war eigentlich die Frage?
Das Publikum moniert den Druck aus der Gesellschaft, immer mehr konsumieren zu müssen. Die Schauspieler aus dem Westen schlüpfen in die Rolle der Konsumverteidiger: Es sei doch gut, konsumieren zu können.
Das Schaubühnen-Team auf Tour durch Old Dehli: Thomas Ostermeier, Eva Meckbach, Thomas Bading, Renato Schuch (von links)
Das Schaubühnen-Team auf Tour durch Old Dehli: Thomas Ostermeier, Eva Meckbach, Thomas Bading, Renato Schuch (von links)© Deutschlandradio - Susanne Burkhardt
Konsumkritik contra Konsumverteidiger. Die Mehrheit habe nicht immer recht, heißt es jetzt. Die Demokratie funktioniere nicht mehr. Eine Frau beklagt, wir würden falsch informiert durch die Medien, so wie im Stück, und könnten daher gar nicht frei entscheiden.
Es gäbe hier kein Richtig und kein Falsch, sagt ein Zuschauer, das Grundübel sei die Wachstumsidee, die soziale Kosten und Notwendiges außer Acht lässt. Fünfzehn Minuten dauert die Diskussion jetzt schon. Als die ersten Zuschauer gehen, ruft Christoph Gawenda als Dr. Stockmann, sie sollten doch bleiben, das Stück sei ja noch nicht vorbei.
20 Minuten später. Der Schlussapplaus ist vorbei. Das Publikum begeistert, die Reaktionen durchweg positiv. Schön so ein Theater in Kalkutta zu sehen, finden drei junge Frauen, noch nie hätten sie erlebt, dass das Publikum mit einbezogen wurde.
"Das ist zeitentsprechend"
Zuschauer:"Ich habe das Stück vorher gekannt, in unserer Muttersprache wurde das verfilmt. Das Problem kennen wir sehr gut. Heutzutage haben wir politische Fragen, die hier sehr gut kommuniziert wurden, hier in diesem Stück – das ist zeitentsprechend."
Reaktionen, die Thomas Ostermeier gefallen dürften. Der Intendant der Schaubühne war mit dieser Produktion schon in vielen Ländern darunter in Argentinien, Russland, Frankreich oder Griechenland zu Gast.
Ostermeier:"Man hat während der Publikumsdiskussionen zweierlei gemerkt. Zum einen, dass in der indischen Gesellschaft Diskussionen dazugehören – zur Zukunft des Landes, mit großer Leidenschaft geführt, auch harsch diskutiert. Und mit jedem, mit dem man spricht, hier in Kalkutta und Delhi – erzählen sie einem, dass seit der Regierung Modi Indien sich in Richtung Amerika bewegt. Dass sie einen entfesselten Neoliberalismus durchgesetzt hat und dass diese Segnungen des freien Marktes nicht bei den Armen angekommen sind. Aber hier gibt es auch eine Mittel- und eine Oberschicht. Diese Mittelklasse wird garantiert diese Probleme verstehen, also die Leute die drin saßen werden. Wenn es heißt: 'Eine Gesellschaft, in der die Wahrheit keinen Platz hat, verdient Untergang. 'Euer Wohlstand beruht auf einer Lüge.' Oder ' Dein Profit begründet sich darauf, dass Du den Leuten diese Drecksbrühe anbietest.' Das sind doch alles Sachen, die hier unglaublich virulent sind."
Ganz so wie es sich Brecht gewünscht hat
Theatervorführungen als Spiegel der Gesellschaft – ganz so wie es sich Brecht gewünscht hat.
Ostermeier: "Unabhängig von diesen Problemen der Postdemokratie oder der krisenhaften Demokratie sind die ökologischen Probleme in Indien natürlich auch immens und von daher ist das Stück sehr nachvollziehbar. Und dieses Milieu der young urban professionals, Akademiker, Künstler, das ist, glaube ich, mittlerweile global. "
Schade, dass es keine zweite Vorstellung in Kalkutta gibt. Dann wären vermutlich auch die gekommen, die sonst nicht zu den Stammgästen der Theaterpremieren gehören – die Freunde, Verwandten oder Bekannten der Kulturakteure. Ihre vielleicht weniger globalisierte und professionelle Sicht auf den Abend hätte mich interessiert. So aber zieht die 30-köpfige Schaubühnencrew weiter zum Flughafen, auf nach Chennai im Süden Indiens. Zur letzten Aufführung der Tournee.
Jetzt reist der Schaubühne-Regisseur mit seiner Truppe auf Einladung des Goethe-Instituts nach Indien, um seine Version von Ibsens "Volksfeind" vorzustellen.
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