Berliner Philharmoniker

"So geheim wie die Papstwahl"

Sir Simon Rattle (l) dirigiert in Berlin das Waldbühnen-Konzert der Berliner Philharmoniker .
Die Berliner Philharmoniker gehören zu den weltweit besten Orchestern. © picture alliance/dpa/Wolfgang Kumm
Ulrich Eckhardt im Gespräch mit Dieter Kassel · 11.05.2015
Die Berliner Philharmoniker wählen ihren neuen Chefdirigenten. Für Ulrich Eckhardt, ehemaliger Intendant der Berliner Festspiele, wäre Daniel Barenboim eine Idealbesetzung. Ihm traue er zu, sowohl Chefmusiker als auch Künstlerischer Leiter zu sein.
Wer wird die Berliner Philharmoniker, diese Versammlung ebenso exzellenter wie kapriziöser Musiker, künftig leiten? Für den ehemaligen Intendanten der Berliner Festspiele, Ulrich Eckhardt, erfüllt in der aktuellen Kandidatenkür für den neuen Chefdirigenten nur Daniel Barenboim alle Anforderungen.
Im Deutschlandradio Kultur sagte Eckhardt, der amtierende Chefdirigent, Sir Simon Rattle, sei der erste gewesen, "der nicht nur Chefdirigent, sondern auch Künstlerischer Leiter einer in Stiftungsform agierenden Orchestergemeinschaft ist. Dem Intendanten sind durch diese neue Regelung alle künstlerischen Funktionen entzogen. Sie sind jetzt alle beim Orchester."
Die Philharmoniker sind ein komplexes Gebilde
Und vor diesem Hintergrund erscheine ihm Daniel Barenboim als der geeignete Kandidat. Der ist Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden und hat seinen Vertrag dort vor ein paar Jahren bis 2022 verlängert. Doch noch ist alles offen und die Wahl des neuen Philharmoniker-Chefs sei "so geheim wie die Papstwahl".
Das abstimmende Orchester mit seinen einzelnen Instrumentengruppen sei ein komplexes Gebilde sei, deshalb müsse man jetzt abwarten, ob sich die Musiker von spontanen Eindrücken leiten ließen "oder ob es eben die Vernunft ist, die sagt: Wir brauchen jemanden, der in umfassender Weise das Orchester leiten und auch künstlerisch begleiten kann", sagte Eckhardt.


Das Interview im Wortlaut
Dieter Kassel: Die Berliner Philharmoniker wählen heute ihren neuen Chefdirigenten. In diesem klaren und einfachen Satz, den wir heute Morgen auch schon mehrfach gehört haben, je nachdem, wie lange Sie wach sind, in diesem Satz steckt etwas zutiefst Erstaunliches: Denn die Berliner Philharmoniker sind das einzige Orchester auf der ganzen Welt, bei dem die Musiker ihren Dirigenten wirklich selber wählen. Es gibt keine Findungskommission, der Intendant ist nicht abstimmungsberechtigt, auch Geldgeber, wer auch immer, haben da nichts zu sagen. Die 124 Musiker machen das ganz unter sich aus und lassen auch eigentlich keinen dabei zugucken oder gar -hören. Das Ganze findet heute an einem geheimen Ort statt. Vorher werden Handys abgegeben, und wir erfahren alle am Ende nur, auf wen sie sich einigen konnten, mehr erfahren wir nicht.
Oder vielleicht jetzt doch ein bisschen mehr, im Gespräch mit Ulrich Eckhardt nämlich. Er war von 1973 bis ins Jahr 2000 Intendant der Berliner Festspiele, hat 1989/90 als Interimsintendant der Philharmoniker die Berufung Claudio Abbados begleitet, kennt Abbado und viele andere berühmte Dirigenten persönlich. Und jetzt, nach langer Zeit mit langen Arbeitstagen als Kulturmanager – nicht jetzt, sondern als er dann 2000 offiziell in den Ruhestand verabschiedet wurde, widmet er sich wieder seiner großen Liebe zur Musik, als Orgel- und Klavierinterpret. Schönen guten Morgen, Herr Eckhardt!
Ulrich Eckhardt: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Für jemanden, der so lange sich mit Kultur und auch klassischer Musik beschäftigt, solche Wahlen mehrfach miterlebt hat, ist es trotzdem heute ein ganz aufregender Tag für Sie?
Eckhardt: Ja, diesmal ganz besonders. Das würde ich auch noch gerne erklären. Und es ist gut möglich, dass die Philharmoniker am Ende selbst genauso über ihre eigene Entscheidung überrascht sein werden wie das staunende Publikum.
Kassel: Vielleicht aber jetzt am Anfang, der ein bisschen mehr ja doch weiß als wir Normalsterbliche, noch etwas zu diesem Prozedere: Das klingt ja alles doch fast wie aus einem Fantasy-Film, diese Geheimhaltung. Wie läuft das heute genau ab?
Verschiedene Mentalitäten treffen aufeinander
Eckhardt: Wie es abläuft, ist ja bekannt. Es ist eigentlich wie die Papstwahl. Und was aber die besondere Schwierigkeit, und das sollte man am Anfang gleich mal mit einkalkulieren, wenn man über den Fall redet: Es handelt sich ja hier um eine kollektive Entscheidung, und die ist immer sehr abhängig von der spezifischen Mentalität derer, die da zu entscheiden haben. Musikerseelen sind Schwankungen und Stimmungen unterworfen. Und wir haben ja zweimal das große Glück gehabt, dass die Wahl unter dem unmittelbaren Eindruck einer kurz zuvor stattgefundenen, besonderen Begegnung mit einem Dirigenten stattfand. Das war sowohl im Fall von Claudio Abbado wie Sir Simon Rattle der Fall.
Beide Dirigenten waren eigentlich zunächst mal gar nicht auf der Rechnung. Sie waren weniger vom Orchester als von den Berliner Festwochen präsentiert worden. Und die Wahl fand unmittelbar nach solchen Festwochenereignissen statt. Das war bei Abbado Brahms und bei Rattle erstaunlicherweise Haydn. Und das ist, was ich meine: Musiker haben sehr stark immer so den ganz emotionalen und direkt wirkenden Eindruck und die Empfehlung wie für sich selbst. Das andere ist natürlich dann die Gruppendynamik. Dann gibt es im Orchester immer Fraktionen. Und diese Debatte findet natürlich auch nicht nur hinter verschlossenen Türen, sondern hatte vorher auch stattgefunden. Wer da genau hinhörte oder wer in der Nähe war, wie der jeweilige Intendant, der kann sich schon so einigermaßen zusammenreimen, was da heute gesprochen wird.
Kassel: Aber man hört ja immer gar nichts darüber, wie das Ergebnis am Ende wirklich ausgesehen hat. Man erfährt nur, wen sie gewählt haben. Kann man denn davon ausgehen, dass, egal, wie so eine Wahl endet, es immer auch einen nicht unerheblichen Anteil von Orchestermusikern gibt, die den Mann eigentlich gar nicht wollen, für den man sich dann entscheidet?
Eckhardt: Ja, so ist das tatsächlich. Und das bleibt auch so. Ich habe es noch nie erlebt, dass einer selbst von diesen großen Namen, selbst der jetzige, vom Orchester hundertprozentig unterstützt wird. Es gibt immer Gruppen und Fraktionen. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die Musikergruppen auch sehr unterschiedlich denken. Es gibt zum Beispiel so Vorlieben, die die Streicher haben, und dann gibt es Vorlieben, die die Bläser haben, was jeweils den Charakter des Dirigenten betrifft, mit dem sie dann gerne oder eben nicht so gerne arbeiten. Also man muss immer damit rechnen, dass nie das ganze Orchester hinter einem Chef steht.
Sir Simon ist der erste Chefdirigent, der auch Künstlerischer Leiter ist
Kassel: Ich als musikalisch Halbgebildeter würde dann schätzen, am Ende haben die Geiger das letzte Wort. Wahrscheinlich nicht, oder?
Eckhardt: Das weiß ich nicht. Aber sie haben mindestens die Mehrheit. Aber wie es dann nachher in der Debatte aussieht, das ist also sehr Schwankungen unterworfen.
Kassel: Ist dieses Prozedere, diese Geheimhaltung, alles, was damit zu tun hat, nur ein großes Kulturtheater oder ist es wirklich, wie der langjährige Orchestervorstand Peter Riegelbauer es formuliert "ein Festtag der Orchesterdemokratie"?
Eckhardt: Es ist ein Festtag der Orchesterdemokratie, aber dieses Mal ist alles noch schwieriger. Und diesmal ist auch alles noch heikler, weil dieses Recht des Orchesters, was ja nicht nur ein Recht ist, es ist auch eine vernünftige Regelung – inzwischen machen das andere Orchester ja auch –, sie haben es nicht verbrieft bekommen, aber es haben oft Dirigenten dann immer Schwierigkeiten bekommen, die nicht vom Orchester, sondern vom Rechtsträger ins Rennen geschickt wurden. Also, man hat schon vernünftigerweise diese kollektive Entscheidung jetzt zur Regel gemacht. Aber dieses Mal ist alles jetzt noch heikler. Vergessen Sie nicht, dass Sir Simon Rattle der erste Dirigent jetzt, der erste Chef war, der nicht nur Chefdirigent, sondern künstlerischer Leiter einer in Stiftungsform agierenden Orchestergemeinschaft ist.
Dem Intendanten sind durch diese neue Regelung sämtliche künstlerische Funktionen entzogen, sie sind jetzt alle beim Orchester. Und logischerweise kann ja ein Orchester nicht kollektiv entscheiden. Auch der Orchestervorstand, der ja manchmal sich ändert, kann das nicht. Also letztlich sind jetzt Entscheidungen, die früher beim Intendanten waren, beim künstlerischen Leiter und Chefdirigenten. In dieser krassen Form ist das diesmal zum ersten Mal. Das macht jetzt die Entscheidung etwas schwerer.
Ist der Intendant nur noch Grußonkel?
Kassel: Vielleicht noch zur Entscheidung, entschuldigen Sie, eine Zwischenfrage an jemanden, der so viel Erfahrung als Intendant hat: Was heißt das denn eigentlich für den Intendanten? Das klingt jetzt für mich so, als sei der mehr oder weniger nur noch der Grüßonkel.
Eckhardt: Ja nun, Grußonkel – so wenig ist es dann wieder nicht. Es sind ja auch organisatorische Fragen, und es sind natürlich auch logistische Fragen. Aber letztlich, künstlerische Entscheidungen sind nicht mehr im Intendantenbüro. Das war bei Claudio Abbado noch der Fall. Zwar auch schon in etwas reduzierter Form, er nahm für sich auch viel in Anspruch, aber er hat doch den Dialog mit dem jeweiligen Intendanten gesucht und gepflegt. Das ist dieses Mal jetzt anders. Und das macht jetzt diese Entscheidung umso schwieriger und umso heikler. Denn es müsste jemand gewählt werden, der in dieser idealen Weise, wie es Sir Simon Rattle jetzt geschafft hat, tatsächlich umfassend für das Orchester einstehen kann, und zwar künstlerisch einstehen kann. Und zwar betrifft das ja nicht nur die anderen Dirigentensolisten, sondern das betrifft, und das ist ja ganz entscheidend, das Repertoire. Und wenn ich jetzt diese Liste – die ist ja bekannt, alle Namen liegen auf dem Tisch – eigentlich gibt es unter diesen Namen nur einen, mit einer Ausnahme könnte diese Rolle auch jemand einnehmen in der Weise, wie es Sir Simon Rattle ja so vorzüglich tut. Also die Wahl ist diesmal schwieriger, und sie ist weiterreichend als bisher.
Kassel: Angesichts der Situation auch der klassischen Musik in Deutschland und der Welt im Moment. Wenn ich Sie jetzt zum Schluss, Herr Eckhardt, wenn ich Sie einerseits als Musikfreund, der sie Ihr Leben lang gewesen sind und bis heute sind, fragen würde, und andererseits als Kulturmanager, der Sie jahrzehntelang waren – müssten Sie dann strenggenommen zwei verschiedene Chefdirigenten empfehlen?
Eckhardt: Nein. Ich muss ja nach der bestehenden Lage ein Urteil mir bilden. Und das ist eben diese neue Stiftungsform, die dem Orchester in jeder Hinsicht alle künstlerische Verantwortung zuschiebt, die es dann zusammen mit dem jeweiligen künstlerischen Leiter, also diese Doppelfunktion künstlerischer Leiter. Ich finde das eigentlich auch ganz vernünftig. Aber es gibt tatsächlich unter den Kandidaten wirklich keinen außer Daniel Barenboim, der das in derselben Weise machen könnte.
Fällt die Wahl auf Barenboim?
Kassel: Erwarten Sie, dass man ihn wählt?
Eckhardt: Das werden wir natürlich sehen. Ob das Gesetz der Serie – da müsste man jetzt mal nachsehen, wer jetzt in den letzten Tagen und Wochen mit den Philharmonikern gearbeitet hat, wer also so einen Eindruck hinterlassen hat, dass sie jetzt spontan auf ihn fliegen. Oder ob es eben die Vernunft ist, die sagt, wir brauchen jemanden, der in umfassender Weise das Orchester leiten und auch künstlerisch begleiten kann.
Kassel: Also sozusagen Kopf, Herz, Seele, Musik, alles zusammen. Ulrich Eckhardt war das, langjähriger Leiter der Berliner Festspiele, über die heutige Wahl des Chefdirigenten durch die 124 Musiker der Berliner Philharmoniker. Danke fürs Gespräch, Herr Eckhardt.
Eckhardt: Bitte, gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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