Berliner Kunstgriffe

Von Claudia Fried · 26.06.2008
Einst Sprayer-Hauptstadt, nun Kunst-Metropole. In Berlin leben mehr als 6000 bildende Künstler. Rund 400 Galerien haben sich hier angesiedelt. Und Künstler aus dem Ausland fühlen sich von der Hauptstadt angezogen.
Presslufthämmer zertrümmern die Reste der Ruine des Palastes der Republik. Auf dem Schlossplatz rollen die Bagger. Hier wird im Herbst die Temporäre Kunsthalle "white cube" eröffnen. Und für zwei Jahre der Gegenwartskunst den Raum geben, der in Berlin bislang fehlt. Obwohl zigtausend Künstler seit Jahren in der Metropole arbeiten, und mit ihren Kunstwerken die Welt in Staunen versetzen. Obwohl Galerien von internationalem Rang längst eine Dependance in der Stadt haben. Obwohl die Durchmischung von Kunst und Kreativindustrie kein Geheimnis mehr ist. Und so brachte eine private Initiative mit privatem Geld den Stein für die Präsentation der Berliner Gegenwartskunst ins Rollen. Die Hauptstadt denkt jetzt über eine dauerhafte Kunsthalle nach. Ein Tribut an die lebendige Kunstszene der Stadt.

Keiner: "Ich würde sagen, Berlin ist das, was du draus machst. Es ist ne Form von Toleranz, aber auch von Inspiration und Herausforderung."

Wöhlert: "Wenn sie ins Ausland gehen, dann ist Berlin nicht im Gespräch wegen seiner drei Opern oder seiner großartigen Theaterlandschaft, sondern die Augen leuchten, wenn’s um Bildende Kunst geht."

Anri: ""There are so many holes in the city, it gives space it gives a space of projection of what it could be.”"

Tammen: ""Sie bietet Raum und Möglichkeit kreativ einzugreifen, das macht sie so interessant auch für Künstler herzukommen."

Anri: "Ich empfinde das nicht so, weil ich aus dem Osten komme und Berlin einen Ostteil hat, sondern weil die Stadt noch unfertig ist.""

Anri Sala ist einer der Top 100 Künstler weltweit, die das Internetportal Artfacts listet. Vor dreieinhalb Jahren verlegte der Videokünstler seinen Wohnsitz von der Seine an die Spree. Weil die Stadt keinen possesiven Charakter habe, weil der Ort sich nicht immerfort als Hauptstadt geriere, weil Berlin unfertig sei und dadurch Raum biete, um Ideen, Wünsche und Phantasien zu projizieren.

Anri: "Man kann sich im Moment noch vorstellen, was aus der Stadt einmal werden wird. Wegen all ihrer Leere, ihrer Hohlräume, der Mauer und den Brachflächen… Es gibt einerseits eine fertige Struktur, andererseits aber unfertige Areale. Und man sieht noch wildes Gras. Das gibt es in Paris oder London so nicht mehr."
In Paris, der perfekt restaurierten, vollendet schönen Stadt hat Anri Sala in neun Jahren keinen einzigen Film gedreht. In Berlin filmt er. Die Videoarbeit "Long sorrow" ist in der Trabantenstadt Märkisches Viertel entstanden. Sie zeigt einen schwarzen Musiker, der vor einem Fenster im 18. Stock hängt und auf dem Saxophon Free-Jazz spielt.

Das kreative Herz Berlins pocht in der Innenstadt. Und nicht erst seit gestern. Sofort nach der Wende eröffneten junge Galeristen im Bezirk Mitte ihre Showrooms, und zeigten das, was um sie herum in Ateliers und Studios entstand.

Tammen: "Man muss wissen, historisch war das ein Arme-Leute-Bezirk, mit kleinteiliger Architektur, aber dort fanden diese Pioniere die Bedingungen für kleines Geld ihre kreativen Ideen umzusetzen. Und das hat ja den Ruf Berlins als Kunst und Kulturstadt auch maßgeblich begründet."

Heute zählt die Stadt über 400 solcher privatwirtschaftlicher Präsentationsorte für Kunst, sagt Werner Tammen, der Vorsitzende des Verbands Berliner Galerien. Damit hat sich Berlin zum größten Galerienstandort Europas entwickelt. Der Tross von Künstlern, die Berlin für sich entdecken, hat auch den Kunstmarkt nach Berlin verschleppt. Internationale Galerien, Sammler und Kunstliebhaber aus aller Welt pilgern mehrmals im Jahr zu den Kunstevents der Stadt. Das sind die Messen Art-Forum, Preview, Kunstsalon und Berliner Liste, sowie die von den Kunstwerken Berlin organisierte Berlin-Biennale, und neuerdings das Gallery-Weekend, eine Initiative von namhaften Berliner Galerien, die als Rundgang konzipiert ist. Für Werner Tammen, der selbst eine große Galerie am Checkpoint Charlie betreibt, ist der Erfolg deutscher Kunst ein Ergebnis der international aktiven Galeristen.

Tammen: "Das hat ja damit zu tun, dass Kollegen irgendwann ihre Entdeckungen gemacht haben, und dann sehr aktiv über Jahre über internnationale Messepräsenzen zum Beispiel das Thema Leipziger Kunst bekannt gemacht haben im Ausland, vorwiegend in Amerika, und dann den Erfolg von dort wieder mit nach Hause gebracht haben. Und das zieht ja immer was nach sich."

Die Galerienszene in Berlin wächst weiter, erst vor kurzem entstand ein neues galeristisches Zentrum auf dem Gelände des Hamburger Bahnhofs. Als blanke Ironie macht sich die Nachbarschaft zum Museum für zeitgenössische Kunst aus. Die Galerien führen nun mit kuratierten Ausstellungen vor, was der Hamburger Bahnhof nicht leistet. Er wurde wegen der finanziellen Notlage des Landes in die Hände der privaten Sammler Flick, Marx und Marzona gegeben. Und die Ankaufetats der staatlichen Museen zu Berlin haben auch schon mal bessere Zeiten gesehen.

Doch der kreative Motor der Stadt brummt, auch ohne die Fürsorge der öffentlichen Hand. Berlin produziert einen gewaltigen künstlerischen Ausstoß: 40 Prozent der gezeigten Arbeiten auf der Biennale in Venedig und der Dokumenta in Kassel sind in Berliner Studios entstanden. Renommierte auch internationale Künstler haben hier mindestens ihr Studio und bringen auch ihre Galeristen unter Druck eine Berliner Filiale zu gründen. Zwar stammen die Kunstkäufer und Sammler zum Großteil nicht aus Berlin, aber sie kommen gern hierher, sagt Shaheen Merali, der künstlerische Leiter der Galerie Bodhi. 80 Prozent der Kunden seiner Galerie mit Stammsitz im indischen Mumbai kaufen vom europäischen Markt. Der Schritt nach Berlin - eine strategische Entscheidung.

Merali: "Die Stadt muss darauf reagieren, dass man sie als kulturelles Zentrum Europas ansieht. Es ist nicht mehr Paris, es ist auch nicht mehr London, es ist Berlin. Berlin ist die Stadt der Wahl für Künstler, für Galerien für Kuratoren und möglicherweise für Initiativen wie die Kunsthalle, um eine starke und kräftige Gegenwartssprache zu finden, und eine Beziehung zur Kunst-Geschichte aufzubauen."

Die Gegenwartskunst steht hoch im Kurs. Das ist nicht nur das Verdienst von Künstlern und Galeristen, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung. In einer Welt der Massenprodukte drückt sich der Wunsch nach Individualität auch darin aus, ein Original besitzen zu wollen. Zudem erwartet man von jungen Leuten Kommunikationsfähigkeit in ihren Jobs. Und diese verlangt, dass sie am kulturellen Leben teilhaben, mindestens eine Galerie besuchen, eine Opernaufführung, oder ein Theater, um abends auf der Party mitreden zu können.

Außerdem ist das Stück Kunst daheim an der Wand ein lukratives Spekulationsobjekt. Die Wertsteigerung von Bildern und Skulpturen liegt bei 20 bis 25 Prozent jährlich. An der schönen Kunst kann man sich nicht nur erfreuen, sondern sie kann einen nebenbei auch schön reich machen.

Wöhlert: "Das spiegelt sich in den Ausgaben des Senats nicht wieder. Die Förderung auch der Bildenden Kunst, zirka sechs Millionen Euro im Jahr, stehen in keinem Verhältnis zu dem Boom, den die zeitgenössische Kunst in der Stadt hat. Dieser Boom ist ohne staatliche Förderung zustande gekommen. Da hat die öffentliche Hand einen sehr geringen Anteil, das ist ein Fakt."

Torsten Wöhlert, der Kulturpolitische Sprecher des Senats, schmückt sich nicht mit fremden Federn. Dennoch kommt die Erkenntnis der Politik spät. 1993 wurde eine bestehende Kunsthalle geschlossen, zur gleichen Zeit, als die kleinen innovativen Galerien in Mitte eröffneten. Heute, 15 Jahre später, heißt das erklärte Ziel der Berliner Politik: Die Bereiche Wissensgesellschaft, Dienstleistung und Kreativmetropole anzuschieben. Und das aus gutem Grund. Berlin muss hart sparen, die Industrie ist in großen Teilen abgewandert. Kulturförderung heißt also: weg von Beton und Schwerindustrie hin zu Geist und Kreativität, Investition in die Köpfe. Denn auf längere Sicht werden die Rahmenbedingungen für die florierende Kunstszene, wie günstige Mieten und freie Räume auch in Berlin wegfallen. Dann muss es handfeste Gründe geben, um Künstler an der Spree zu halten, und mit ihnen die Kreativwirtschaft. Ein Bereich mit Wachstumsraten von zehn bis zwölf Prozent jährlich.

Wöhlert: "Und die Aufgabe von Stadt oder Landespolitik ist es, Bedingungen zu schaffen, dass dieser Strom nicht abreißt und die Kreativen hier auch heimisch werden und sich, streng ausgedrückt, in eine Wertschöpfungskette einbringen können. Mit dem, was sie oft aus Selbstausbeutung und hochrisikobehaftet tun, irgendwann auch wirtschaftlichen Erfolg für sich selbst und auch für die Stadt haben."

Es liegt in der Natur der Sache, dass die Künstler irgendwann weiterziehen, nach Istanbul, Sankt Petersburg oder Moskau. Gänzlich verhindern kann man das nicht, aber man kann versuchen, um die flüchtige Szene ein stabiles Korsett herumzubauen. Der Senat versucht das mit seiner Kulturförderung. Denn nur die wenigsten Künstler können von ihren Erträgen leben. Die meisten agieren am Existenzminimum, das jährliche Durchschnittseinkommen Bildender Künstler in Berlin liegt bei 10.500 Euro.

Breitz: "Man ist nicht frei von der Realität. Diese Dinge sind Realität, die Wirtschaft, die Strukturen, der Kunstmarkt, die Politik. Als Künstler kann man sich zwischen zwei Haltungen entscheiden. Entweder lebt man außerhalb der Welt, oder man fühlt sich ihr zugehörig. Ich fühle mich der Welt zugehörig, ich lebe in ihr, meine Arbeiten reflektieren die Welt, ich sehe mich als jemand, der sich nicht von der Wirklichkeit abspaltet."

Für Candice Breitz ist das Künstlerdasein alles andere als eine Position der Freiheit. Als die Südafrikanerin nach Berlin kam, half ihr ein Stipendium des Künstlerhauses Bethanien. Eine von mehreren Institutionen, die das Land mit Fördermitteln versorgt und so Atelierräume und Projektmittel zur Verfügung stellt. Breitzs erste Videoinstallation hieß Babel-Series, das Schlüsselwerk für alle nachkommenden Werke, in dem die Künstlerin Einsilber aus bekannten Musikvideos isoliert und dann in schnellen Loops montiert hat.

Inzwischen ist die Künstlerin weltweit bekannt, Fördermittel braucht sie nicht mehr. Die Strategie des Landes Berlin ist bei ihr aufgegangen. Sie gehört zu den 35 Prozent der Künstler, die in einer Befragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung angeben, ausschließlich von ihrer künstlerischen Tätigkeit leben zu können. Ein Drittel der Befragten verfügt über feste Verträge mit Galerien. Der große Rest versucht sich selbst zu vermarkten. Hier helfen eine Million Euro des Landes, die dem Bildungswerk des Berufsverbands Bildender Künstler zugute kommen. Von dem Geld betreibt der BBK nicht nur Werkstätten, er hat auch ein Seminarprogramm auf die Beine gestellt, das Berufskünstler auf die hohen Anforderungen der Selbstvermarktung vorbereiten will. Ingolf Keiner gibt Workshops, die Bildenden Künstlern Präsentations- und Kommunikationstechniken vermitteln sollen.

Keiner: ""Es reicht nicht, dass ich ne gute Arbeit mach, ich muss sie auch gut fotografieren, ich muss nen guten Text herzaubern und auch eine Dokumentation herstellen können. Und mit dieser Dokumentation muss ich auch Kontakt aufnehmen können und über verschiedene Medien versuchen, die an den Mann oder Frau zu bringen. Also die in die Öffentlichkeit zu bringen. Ich kann ja nicht immer mit dem Kunstwerk unterm Arm vor die Tür gehen. Bis hin zu dem Punkt sich selber Ausstellungen zu organisieren, zu managen, ist das ein weites Feld wie aus dem Atelier heraus der Weg zum Erfolg aussehen kann."

Neben den sechs Millionen Euro des Landes fließen auch Mittel des Bundes nach Berlin. Der DAAD, der Deutsche Akademische Austauschdienst holt jährlich 18 Künstler in die Hauptstadt, die er ein Jahr mit freien Wohnungen, Unterhaltszahlungen und Projektmitteln versorgt. Sechs Stipendiaten sind Bildende Künstler, Anri Sala war 2005 einer von ihnen und ist wie viele geblieben. Der Hauptstadtkulturfonds hat von insgesamt 8,7 Millionen Euro in den Bereich Bildende Kunst 800.000 Euro investiert. Die Kulturstiftung des Bundes stellte in den letzten zwei Jahren fünf Millionen Euro bereit. Sie unterstützt zusätzlich mit 2,5 Millionen jährlich die Berliner Biennale, die vor zwei Wochen zu Ende ging. Künstler bespielten neben den Kunstwerken und der Nationalgalerie eine der vielen Brachflächen Berlins. Hinter Bauzäunen an der Kommandantenstraße sorgte ein kleiner Schrotthaufen aus Steinbrocken, Kabeln und Müll für Empörung.

Es ist der Körper der Klanginstallation von Susan Hiller, "every gardener knows." Dem Glockenspiel einer Kirche nachempfunden. Wie ein Muezzin Ruf hallt sie über die Baulücken in Berlins Innenstadt. Nur die Anwohner hatten kein Ohr für den singenden Glockenklang, und brachten den Hügel in einem nächtlichen Sabotageakt zum Schweigen.

Von der Kulturförderung Berlins kann kein Künstler lange leben. Aber sie bietet Startmöglichkeiten, sie holt interessante Künstler in die Hauptstadt, und mit ihnen Galerien, Kuratoren und Sammler. Ein Defizit ist derzeit allerdings, dass man die Kunstwerke, die in Berlin entstehen, überall auf der Welt sehen kann, nur nicht hier. Es fehlt an einer Ausstellungsfläche größeren Ausmaßes für Gegenwartskunst. Dem Missstand will die Initiative von Konstanze Kleiner und Coco Kühn Rechnung tragen: Die temporäre Kusnthalle "white cube", mit 950.000 Euro finanziert von dem privaten Stifter, Dieter Rosenkranz. Der 20 mal 60 Meter kleine Zweckbau, den der Österreicher Adolf Krischanitz entworfen hat, entsteht derzeit auf dem prominenten Schloßplatz zwischen Dom, Staatsratsgebäude, und der Ruine des Palastes der Republik. Die Initiatorin Konstanze Kleiner:

Kleiner´: "Ich denke, es ist das Ergänzende, was wir leisten können. Dem voran geht natürlich, in der Lage zu sein, einzuschätzen, was sich gerade tut. Das ist der Anspruch, die Nähe zu haben zur aktuellsten Kunstproduktion. Die Szene zu kennen, zu wissen, was in Berlin entsteht, aber auch provozieren können, dass neues entsteht und hoffentlich und möglicherweise tatsächlich vor Ort, künstlerische Produktionen zu initiieren. Das ist tatsächlich der Anspruch."

Rückendeckung hat der "white cube" in der Zwischenzeit von allen Seiten. Die Künstler, Galeristen, und auch Politiker wollen sie, die neue Spielwiese für die Kunst, am besten Platz der Stadt. Sie soll ein Experimentierfeld sein für die künstlerische Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten und politischen Themen, die zugleich die aktuellen Diskurse innerhalb der Kunst widerspiegeln.

Ende 2010 wird die temporäre Kunsthalle dem Bau der Kanzler-U-Bahn weichen, so ist es ausgemacht. Der Berliner Senat denkt in der Zwischenzeit laut über eine permanente Kunsthalle nach, die langfristig aus Mitteln des Landes finanziert werden soll. Antworten auf die Fragen, wie ausgestattet, an welchem Ort, mit welcher Organisation, und welcher Struktur, blieb Klaus Wowereit bislang schuldig. Man darf hoffen, dass es Berlin gelingt, die bunte Szene der Künstler an sich zu binden. Und damit dem Kunst- und Kreativmarkt die sprudelnde Basis zu erhalten. Nicht nur um der Kunst willen, sondern um längerfristig eine wachsende Wirtschaftsmacht in der von Finanzkrisen geschüttelten Hauptstadt zu installieren. Der Installationskünstler Ingolf Keiner sieht das Geschehen in Berlin gelassen. Kunst habe einen längeren Atem als Politik und Wirtschaft, sagt er.

Keiner: "Insofern in diesem Krieg zwischen Geld und Kunst und Markt und Politik wird und muss die Kunst als alleiniger Sieger hervorgehen. Einfach deswegen weil Kunst gut für Menschen ist."