Berliner Kantstraße

Der Boulevard der Einwanderer

Das Theater des Westens in der Kantstraße mit der S-Bahn auf der Hochbahn in Berlin Charlottenburg
Bremsen im Minutentakt: Hochbahn in der Kantstraße im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf © imago/Jürgen Ritter
Von Clemens Hoffmann · 11.10.2016
Die Kantstraße in Berlin führt vom Bahnhof Zoo tief hinein in den Westen der Stadt. Knapp zweieinhalb Kilometer ist dieser laute Hauptstadt-Boulevard lang. Und vermutlich in keiner anderen Straße Berlins leben und arbeiten Menschen aus mehr Nationen, Ethnien, Religionen und Einkommensschichten.
Oben, auf den Gleisen der Hochbahn, bremsen im Minutentakt die S-Bahnen für die Einfahrt in den Berliner Bahnhof Zoo. Unten quält sich vierspurig der Vormittagsverkehr. Vor dem Theater des Westens mit seiner barocken Fassade schieben sich die gelben Busse der Berliner Verkehrsbetriebe träge durch den Strom der Fahrzeuge. Fahrradkuriere schlängeln sich vorbei. Der Feinstaub legt den Rachen trocken. Willkommen auf der Kantstraße!
Eine halbe Stunde dauert es, den 2300 Meter langen Boulevard der Einwanderer einmal abzulaufen. Eine kleine Weltreise, vorbei an den Geschäften der Spanier, Italiener, Griechen, Türken, Libanesen, Israelis, Russen, Polen, Armenier, Kroaten, Chinesen, Vietnamesen und Thais.
Auf den ersten Metern gibt sich die Kantstraße edel: schicke Hotels, die meisten erst in den letzten Jahren mit dem Touristenboom aus dem Boden gestampft. Daneben kleine, feine Boutiquen für italienische Schuhe und Möbel. Vor dem mehrstöckigen Kaufhaus für teures Wohndesign plätschert ein Brunnen gegen den Verkehrslärm an.
Auf der anderen Straßenseite das Schwarze Café, ein linker Szenetreff, der Tag und Nacht geöffnet hat, und die Paris Bar mit ihrem geschwungenen roten Neonschriftzug. Beide Zeugen einer Zeit, in der West-Berlin eine Insel war.
Eine Kreuzung weiter zerschneidet die Kantstraße den grünen Savignyplatz mit seinen Straßencafés. Auf den Bänken, die geschützt unter bepflanzten Bögen stehen, haben sich ein paar Obdachlose ausgestreckt. Ein öffentliches Schlafzimmer mit einem Rest Intimsphäre. Die Gegend drum herum: großbürgerlich. Verschwenderische Stucketagen zu Berliner Spitzenpreisen.
An der Ecke Bleibtreustraße schützt eine dunkelrote Markise prächtige Kirschen, Himbeeren und Wassermelonen vor der Sonne. "Mandalina" steht auf dem Markisen-Stoff, das türkische Wort für "Mandarine". Der Laden gehört Soner Gözüdok. Der schlanke Mann ist ständig in Bewegung. Er wirkt etwas abgekämpft. Eben noch hat der 43-jährige Deutschtürke mit einem Mitarbeiter Kartons mit Salatköpfen aus seinem Transporter gewuchtet, jetzt verabschiedet er einen Stammkunden.
"Das war der Lehrer von meiner Tochter, die Grundschule ist auch gleich hier in der Nähe, deswegen, in so einem Kiez kennt man sich schon! Man hat Politiker, man hat Schauspieler, man hat aber auch ganz einfache Leute. Und das Miteinander klappt."
Gözüdoks Eltern kamen in den 1970er-Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei. Soner und seine Frau Askim sind in Berlin geboren, haben hier Abitur gemacht.
"Wir wollten eigentlich Lehrer werden, aber dann hat sich das so ergeben, dass wir ne Möglichkeit gekriegt haben, auf einem Marktstand mit Obst und Gemüse zu handeln, und das war dann so dieses Klickzeichen, wo wir gesagt haben, Mensch, die Selbstständigkeit das liegt uns ja, und dann sind wir dabei geblieben."
Seit 13 Jahren handeln die Gözüdoks mit Obst und Gemüse. Im winzigen Verkaufsraum sind die frischen Pfifferlinge in Spanschälchen arrangiert, Nüsse und Trockenfrüchte in Weidenkörbchen. Mit makelloser Qualität setzen sich die Händler von der Konkurrenz ab. Jeden Tag fährt Chef Soner früh um drei auf den Fruchthof im Wedding, um die beste Ware auszuwählen und sitzt nach Ladenschluss um 20 Uhr oft noch bis spätabends über der Buchführung.
"Manchmal überlegt man vielleicht, was das für ein anderes Leben gewesen wäre, wenn man Lehrer geworden wäre. Dann wären wir sozial viel mehr aktiv wahrscheinlich. Auch kulturell in der Woche, weil jetzt durch die Selbständigkeit bleibt einem in der Woche nicht viel Zeit."
Die Bildung ihrer Kinder liegt den Gözüdoks am Herzen. Die 16-jährige Tochter ist gerade zum Schüleraustausch in den USA. Der siebenjährige Sohn geht in der Nachbarschaft der Kantstraße zur Schule.
"Obwohl ich selber türkischer Abstammung bin, muss mein Kind nicht unbedingt jetzt vielleicht in Neukölln, wo nur ausländische Kinder in der Schule sind, und sagen wir mal Deutsche die Ausländer sind… - würde ich auch nicht haben wollen, aber hier ist es wirklich genau die richtige Mischung."

Seit 14 Jahren multikultureller

Auf die Mischung kommt es an für eine gute Integration. Wer wüsste das besser als sie – die Kinder von Einwanderern? Längst keine Ausländer mehr, sondern neue deutsche Mittelschicht. Bei den Gözüdoks hat es eine Generation gedauert. Auch die Geflüchteten brauchten jetzt Geduld, meint Askim Gözüdok. Sie erinnert sich noch gut an den Start ihrer Eltern in Deutschland:
"Die wurden mit Blumen empfangen, die haben Geld dafür gekriegt, dass sie gekommen sind, es war eine Freude da, ne? Und trotzdem hat's lange gedauert und ich denke mal, es wird noch mindestens 50 Jahre dauern. Erst die Kinder werden noch einen großen Schritt machen und dann die Kinder und dann wird die Integration vollkommen sein."
Weiter Richtung Westen wird die Straße kleinbürgerlicher. Viel hässliche Nachkriegsarchitektur. Mit jedem Häuserblock verwandelt sich die Kantstraße etwas mehr in die Kanton-Straße: Chinarestaurants, Thai-Imbisse, Japaner und Vietnamesen. Dazu Lädchen mit asiatischem Nippes und Lackmöbeln, Massage-Salons und Nagelstudios – Chinatown in der Berliner City West.
"Lon Men's Noodlehouse", die Suppenküche von Hsien-Kuo Ting, ist schnell zu übersehen. Die Ladenfront ist nur ein Schaufenster breit. Lon Men bedeutet im Chinesischen Drachentor. Doch für ein Tor hat es nicht gereicht: Durch die offen stehende Glastür duftet es herzhaft nach Fleischbrühe, nach Sternanis, Ingwer und Knoblauch. Neben der offenen Küche - ein Imbisstresen für die ganz Eiligen. Im hell gefliesten Gastraum hocken Touristen und Berliner an einfachen Holztischen über dampfenden Schüsseln. Viele Stammgäste sind darunter.
"Ist ein typisches taiwanesisches Restaurant. Spezialitäten sind Nudelsuppen, wir haben Maultaschen, Dim Sums, alles hausgemacht."
Während seine Frau die Angestellten an den siedenden Suppentöpfen und Hackbrettern dirigiert, wortkarg und effizient, nimmt Herr Ting, ein schlanker Mittfünfziger mit silbergrauem Meckischnitt die Bestellungen entgegen. Hinter dem randlosen Brillengestell strahlen wache Augen.
In den 1980er-Jahren war die Kantstraße das Handelszentrum West-Berlins. Großhändler verkauften hier Elektrogeräte, Kleidung, Parfüm – viele Dinge wurden hinüber in den Ostteil geschmuggelt. Durchs Schaufenster beobachtet Ting seit nun 14 Jahren, wie die Kantstraße immer multikultureller wird. Wie Türken, Araber, Russen und Vietnamesen Läden und Restaurants eröffnen. Ihm gefällt die Mischung.
"Die verschiedenen Kulturen untereinander, die Toleranz miteinander – und das alle hier Geschäfte machen!"

So schnell wie möglich Deutsch lernen

Hsìen-Kuo Ting wurde in Taiwans Hauptstadt Taipeh geboren. Mit seinen Eltern kam er 1968 nach Berlin. Da war er 13. Im China-Restaurant seines Vaters, ganz in der Nähe der Kantstraße, ist er aufgewachsen. Anfangs sprach Ting weder Deutsch noch Englisch. Und Willkommensklassen für Neuankömmlinge gab es im damaligen West-Berlin auch noch nicht.
"Man hat mich damals in eine dritte Klasse gesetzt. Die Lehrerin hat immer was auf die Tafel skizziert und ich habe immer unterm Tisch mein Chinesisch-Deutsch-Wörterbuch gehabt."
Der ehrgeizige Ting lernte schnell und fühlte sich noch schneller unterfordert.
"Da haben meine Eltern mich aber zum Goetheinstitut geschickt ein halbes Jahr lang. Da habe ich einigermaßen Deutsch gelernt und da hat man mich in eine altersentsprechende Klasse geschickt, das war 8. Klasse in einem Gymnasium."
Dort angekommen ging die Aufholjagd gleich weiter.
"Denn die anderen Mitschüler hatten schon vier Jahre Englisch und zwei Jahre Französisch. So habe ich eine Abendschule besucht, die beiden Sprachkurse belegt und so habe ich mein Abitur gemacht."
Ting ist seinen Eltern bis heute dankbar, dass sie ihn aufs Goetheinstitut geschickt haben. Auch den Flüchtlingen rät der stadtbekannte Suppenkoch: so schnell wie möglich Deutsch zu lernen.
"Ich denke, als Ausländer, wenn man frisch nach Berlin oder nach Deutschland gekommen ist, sollte man sich erstmal mit der deutschen Sprache auseinander setzen. Die sprachlichen Fähigkeiten sind schon sehr wichtig - Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration."
Staatliche Unterstützung muss sein. Aber Ting ist davon überzeugt: Wie weit es einer bringt, ist vor allem Einstellungssache.
"Ich denke, das liegt an den Einzelnen, ne? Wollen sie hier langfristig bleiben, sollten sie was machen. Nun sind sie da, also sollen sie sehen, dass sie sich auch hier zurechtfinden. Mit Unterstützung der deutschen Regierung."
Seine drei Söhne, in Berlin geboren und aufgewachsen, haben alle studiert, erzählt der Vater stolz: Wirtschaftsingenieurswesen der eine, BWL und Sinologie die beiden anderen. Ob einer von ihnen ins Suppen-Business eintreten wird?
"Ich werde sie dazu nicht zwingen. Man muss mit Herz dabei sein. Wenn die Jungen später mal Lust haben, würde ich sehr begrüßen, wenn die irgendwann den Laden übernehmen würden."

Besorgt über die offene Drogenszene am Stuttgarter Platz

Weiter geht es auf der Kantstraße Richtung Westen. Immer tiefer hinein ins alte Charlottenburg. Zwischen den arabischen Wettbüros und Friseuren, den T-Shirt-Druckereien und dem Erotikkino mit Privatkabinen sind die letzten alteingesessenen Einzelhändler leicht zu übersehen. Das Farbengeschäft Tonsor, die Parfümerie Lehmann oder Korsett Engelke - gerade zehn Fußminuten von Herrn Tings Nudelimbiss.
"Also, es gibt von Doppel-A bis - zwischenzeitlich sind wir wirklich schon bei K, L, M, N angekommen, das sind schon richtig große Cups."
Antje Fröhlichs Großeltern haben das Geschäft vor 60 Jahren eröffnet. Dann stand Mutter Ursel 40 Jahre lang hinter der Theke und nun ist Antje Fröhlich in dritter Generation Dessous-Händlerin in der Kantstraße. Änderungen und Reparaturen inklusive. BHs, Korsetts und Hüfthalter in allen Formen und Farben hängen auf drehbaren Kleiderständern. In Regalen: Negligés und Bademoden.
"Wir kommen zurecht, weil die Leute kommen von weit, weit zu uns hierher. Und da wollen die Leute reingucken und sehen, was eine gute Beratung ausmacht. Und wer einmal hier war, kommt auch immer wieder."
Den Wandel der Kantstraße zum Boulevard der Migranten betrachtet die blondierte Mittfünfzigerin mit ein bisschen Wehmut. Seit in der Wilmersdorfer Straße gleich um die Ecke die Arkaden eröffnet haben, eine Einkaufs-Mall mit ebenso geballtem wie austauschbarem Angebot, leidet die Kantstraße.
"Da war ein Eisenladen, an der Seite, wo jetzt der Sushi-Laden ist, wo man noch Schrauben, Nägel alles einzeln bekommen hat, zack mit der Leiter hoch bis an die Decke, Tante-Emma-Läden, es war einfach alles gemütlicher, familiärer und jetzt natürlich viel An- und Verkauf, viel Asiaten, Russen, Wettbüros, Friseure. Weiß ich nicht, ob wir das alles so brauchen, jedenfalls nicht so geballt."
Sorgen macht der Einzelhändlerin die offene Drogenszene am nahen Stuttgarter Platz, direkt vor dem S-Bahnhof Charlottenburg. Nur drei Fußminuten von ihrem Korsett-Geschäft entfernt würden schon Kinder auf dem Schulweg mit Dealern konfrontiert.
"Und auch von den Autos, die man so sieht, Lamborghini, Ferrari, ist auch jetzt nicht wirklich gut verdientes Geld, was die machen. Also man muss hier schon aufpassen, es ist ein gefährliches Pflaster geworden, Charlottenburg. Drogen - es ist hier ganz viel im Gange, was man nicht wirklich wissen will."
Trotzdem hängt die Geschäftsfrau an der Gegend. Denn es gibt sie ja glücklicherweise auch noch, die Inseln des alten West-Berlins.
"Also es gibt das Café au Lait, das ist ein ganz tolles, gemütliches Café, wo man auch wirklich mal Prominente trifft noch, ist zwar auch in ausländischer Hand, aber sehr, sehr nett, sind Perser. Die bemühen sich, mit denen verstehen wir uns gut, die sind auch schon lange in Charlottenburg."

Friseursalon "Glamour Cut" - eine russische Parallelwelt

In den frühen 1920er-Jahren flohen viele Russen vor der Revolution in die deutsche Hauptstadt. Besonders gerne ließen sie sich im großbürgerlichen Charlottenburg nieder, weshalb der Bezirk bald seinen Spitznamen weghatte: Charlottengrad. Heute leben mindestens 100.000 Menschen mit russischen Wurzeln an der Spree. Auch auf der Kantstraße sind sie präsent: Der russische Buchhändler. Der ukrainische Galerist. Die kasachische Änderungsschneiderin. Oder der Friseursalon "Glamour Cut". Er gehört der Moldawierin Angelica Leschinskaja.
"Elf Jahre bin ich schon in Deutschland und war nie mehr in Moldawien. Nicht mal für wenige Tage bin ich nochmal nach Moldawien gefahren."
Perfekt geschminkt, die pechschwarzen Haare tadellos frisiert, sitzt die 40-Jährige in Leggings auf einem Hocker vor ihrem Geschäft, klappert mit ihren Sandalen und beobachtet das Treiben auf der Kantstraße.
"Gucke Leute jeden Tag und alles!"
"Wir sprechen Russisch" steht in kyrillischer Schrift auf der Schaufensterscheibe hinter ihr. Eine Ansage, die mehr ist als ein Service für die Kundschaft. Fließend Deutsch sprechen in Angelicas Familie nur die Kinder. Ihr 22-jähriger Sohn Semjon und Töchterchen Selina, acht Jahre alt.
"Meine Mutter spricht auch kein Deutsch, sie redet nicht, aber meine Tochter und mein Sohn sprechen nur Deutsch. Wenn ich mit ihr einkaufen gehe, sagt sie mir: Mama, sag's mir auf Russisch, und ich übersetze es auf Deutsch!"
Der Salon – eine russische Parallelwelt. Aus den Lautsprechern eines Laptops dudelt Heimwehpop. Auf einem der drei Drehstühle hockt ein kleiner, blonder Junge. Ein lebhafter, kompakter Mann mit markantem grauem Backenbart schneidet ihm die Haare. Es ist Valeri Leschinski, Angelicas Vater. Seit 47 Jahren Friseur.
"Ich bin schon ein alter Friseur! Kantstraße ist gut. Mir gefällt es da, schon vor sechs Jahren haben wir hier unseren Salon aufgemacht."
Daheim in Ataki, einer Kleinstadt an der Grenze zur Ukraine, war das Leben nach dem Zerfall der Sowjetunion immer schwieriger geworden. 1994 ging Angelicas Schwester Marina als Erste nach Berlin. Sie holte die Mutter nach, dann folgte Papa Valerij - zuletzt Angelica.
Galina Stein, eine Rentnerin mit dunkelblond getönter Fönfrisur und weichen Gesichtszügen, holt ihren Enkel Aron ab. Sie herzt und küsst den Kleinen, streicht ihm über den frisch geschnittenen Scheitel. Aron hat gerade das erste Schuljahr hinter sich.
"Mein Bruder ist in der zweiten Klasse und heißt David."
Frau Stein ist vor 25 Jahren mit ihrer Familie als jüdische Zuwandererin aus dem zentralasiatischen Kirgistan gekommen. Ihre beiden Töchter sind selbständige Unternehmerinnen. Als Oma kümmert sie sich um die Enkel.
"Ich besuche viele Deutschkurse, aber ich habe keine Kontakte mit Deutschen, und das ist ein Problem für uns."
Und wie fühlt sich das an mit den vielen neuen Berlinern? Die Rentnerin zögert ein wenig.
"Früher war es besser. Sauberer und ruhiger. Und jetzt sind da viele Leute, andere Nationalitäten und viele Leute mit psychischen Problemen und anderes. Taschendiebe sind ein Problem für uns."
Viel mehr will Galina Stein zu ihrer Angst vor Taschendieben und anderen Menschen nicht sagen. Das Nachmittagsprogramm mit Enkel Aron wartet schon:
"Und jetzt müssen wir was? – Tennis spielen, tja, Tennis spielen…"

Die Buchhandlung des iranischen Schriftstellers Abbas Maroufi

Sechs Häuser, nicht einmal 200 Meter, liegen zwischen dem wuseligen Beauty-Salon und der persischen Buchhandlung "Hedayat". Benannt ist sie nach dem Dichter Hedayat, einem der bedeutendsten iranischen Autoren der Moderne.
In wandhohen Regalen und auf langen Tischen davor: Bücher mit arabischen Schriftzeichen. Auch ein paar Bildbände liegen aus. Es ist so still, dass der Lärm der Kantstraße hinter den Fenstern zu dröhnen scheint. Inhaber Abbas Maroufi ist Schriftsteller. Im Iran hat der schmale Mann mit den dichten dunkelgrauen Haaren zahlreiche Romane veröffentlicht. Es ist kein Zufall, sagt der in Teheran geborene Maroufi, dass er ausgerechnet hier in der Kantstraße Literatur aus dem Orient verlegt - und verkauft.
"Manchmal bringt der Name Energie. Kant ist ein großer Mensch, und im Iran er ist sehr berühmt,dieser Philosoph. Ich habe es in dieser Straße versucht, habe hier einen Laden gefunden, es ist ein guter Bezirk für mich. Und ich denke immer Kantstraße – meine Straße!"
Immanuel Kant – der Philosoph der Freiheit. In seinem Geist druckt Abbas Maroufi Bücher gegen die Zensur in seiner Heimat. 240 Titel hat der 59-Jährige inzwischen herausgebracht. Viele seiner Autoren sind im Exil, ihre Schriften im Iran verboten.
"Die Regierung hat meinen Verlag zugemacht und ich hatte vier Prozesse. Und schlechte Urteile, Peitsche, zwei Jahre Gefängnis, Schreibverbot und immer war ich im Kampf! Lange Geschichte…"
1996 floh Maroufi mit seiner Frau und den drei Töchtern nach Deutschland. In der Kantstraße wagte er den Neustart mit der Buchhandlung. Und fand auch selbst zum Schreiben zurück.
"Ich habe viel gearbeitet über diese Straße und dann ich habe in meiner Fantasie ein Restaurant aufgemacht, das Havanna-Restaurant in Kantstraße. Das Menü besteht aus Namen von Romanen, ein Essen heißt zum Beispiel Ulysses, ein Roman von James Joyce."
Inzwischen hat Abbas Maroufi drei eigene Romane auf Deutsch veröffentlicht, der vierte erscheint im Oktober. Maroufi weiß, wie sich Flucht und Fremdsein anfühlen. Und dass es manchmal einer einzigen Geste bedarf, um sich dazugehörig zu fühlen. 1999, auf der Frankfurter Buchmesse warb ein Verlag aus München um den Autor. Doch Abbas Maroufis Verleger, der mittlerweile verstorbene Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld ,legte den Arm um ihn– ganz wörtlich und durchaus besitzergreifend.
"Und dann hat Herr Unseld gesagt: 'Der ist mein Schriftsteller.' Und dann habe ich gedacht: Ja! Ich bin in der Welt. Ich habe Unterstützung. Jetzt ich bin lebendig. Für einen Exilanten in einem neuen Land das ist ein großes Datum. Seit dieser Zeit denke ich: Hier ist meine Heimat."
Hinter seiner eckigen Brille funkeln Maroufis dunkle Augen. Seine Tochter Sara bringt starken Tee und iranische Rosinen. Elf Jahre alt war Sara, als sie zusammen mit ihrer Familie Teheran verließ. Inzwischen lebt sie schon fast doppelt so lange in Berlin.
"Ich habe beide Pässe, den deutschen und den iranischen Pass, ich lebe zwischen zwei Kulturen. Also, ich habe zwei Herzen."
Im Hinterzimmer der Buchhandlung sind die Papierstapel noch etwas höher als im Verkaufsraum. Die 31-Jährige lässt den Blick über das kreative Chaos schweifen. Hier ist sie groß geworden:
"Wir sind hier eingezogen. Unsere Wohnung war gleich hier oben, hier unten war die Buchhandlung und das war so etwas wie eine Künstlerwerkstatt. Zum Beispiel habe ich als Kind die bekannte Anwältin aus dem Iran, Frau Ebbadi kennengelernt, und viele verschiedene Künstler habe ich kennengelernt."
Sara hat Museumskunde in Berlin studiert und eine Ausbildung zur Touristikkauffrau drangehängt. Nun will sie sich selbständig machen, mit einem eigenen Reisebüro.
"Man kann Reisen in den Iran buchen, es gibt eine Tour, das heißt Pistazien- und Safranreise. Man lernt wie Pistazien weiterverarbeitet werden und nebenbei sieht man auch die Highlights des Iran."
Ihre Schwester hat vor Kurzem ganz in der Nähe ein Café mit persischer Küche eröffnet. Gut möglich, dass auch Sara bald ihren Traum von der Selbständigkeit verwirklicht. Wo? Na hier, in der Berliner Kantstraße!
"Das ist unsere Buchhandlung hier, eine zweite Heimat. Ich fühle mich hier halt zuhause."
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