Berlinale-Sektionsleiterin: Jugendliche mögen auch religiöse Filme

Moderation: Kirsten Dietrich · 11.02.2012
Drei Beiträge der diesjährigen Berlinale, die sich mit dem Thema Religion beschäftigen, laufen im Jugendprogramm des Festivals. Die Leiterin dieser Sektion, Maryanne Redpath, beobachtet, dass Jugendliche in Berlin "eine große Neugier" gegenüber religiösen Themen aufbringen.
Kirsten Dietrich: Als in den 50er-Jahren auch das Kino in Deutschland zu neuer Blüte kamen, da sahen die Kirchen ihre Aufgabe darin, zu warnen. Vor unmoralischen Filmen vor allem, also vor solchen, die zu viel nacktes Fleisch zeigten, oder vor solchen, die respektlos mit religiösen Inhalten umgingen. Diese Haltung hat sich ganz grundlegend geändert. Inzwischen gibt es Filmgottesdienste, Filmbeauftragte und ökumenische Preise bei allen großen Filmfestivals. Bei der Berlinale feierte man im letzten Jahr das 20. Jubiläum dieses Preises.

Am Donnerstag haben in Berlin wieder die Internationalen Filmfestspiele begonnen, mit aufregenden Filmen auch zum Thema Religion. Drei davon – das ist nicht wenig bei 15 Filmen im Hauptprogramm – laufen im Jugendprogramm Generation 14plus der Berlinale.

Über Religion im Film, über Sinnstiftung und Wertevermittlung durch Filme habe ich mit Maryanne Redpath gesprochen. Sie ist die Leiterin des Kinder- und Jugendfestivals. Wenn ein Film bei Ihnen eingereicht wird, in dem sich junge Menschen mit Religion auseinandersetzen, jetzt mal ganz unabhängig von der jeweiligen Religion, ist das ein Stoff wie jeder andere oder guckt man da genauer hin?

Maryanne Redpath: Man kann nicht sagen, dass das ein Stoff wie jeder andere ist. Aber es ist ein ganz besonderer Stoff und wir gucken genau darauf, wo die Reise hinführt mit solchen Stoffen. Da gibt es eine riesen Fallhöhe. Und wir zeigen Filme mit Protagonisten, die relativ jung sind, so Kinder und Jugendliche. Und es ist oft so, dass Kinder oder Jugendliche, die in streng gläubigen Haushalten oder … zu Hause aufgewachsen sind, sich sehr doll auseinandersetzen müssen mit der Religion, mit ihrer Religion. Und das ist oft sehr dramatisch und sehr emotional für die jungen Leute, die sowieso in der Pubertät sind. Und ich denke, der Ausdruck, die sie in die Filme bringen, auch in die Realität, wenn sie sich auseinandersetzen mit ihren Religionen, sind stark. Und wir suchen nach starken Stoffen für die Filme, die wir zeigen.

Dietrich: Diese Auseinandersetzung junger Menschen mit Religion, das zeigt schon der Eröffnungsfilm von 14plus, das ist der Film "Electrick Children". Er erzählt von der 15-jährigen Rachel, sie ist Kind einer vielköpfigen Mormonenfamilie und wird ganz unerhofft und natürlich irgendwie auch unerwünscht schwanger. Was hat Sie an diesem Film gereizt?

Redpath: Sie glaubt daran, dass es ein verbotenes Musikstück ist, das sie schwanger gemacht hat. Das ist natürlich auch eine sehr interessante Geschichte und auf jeden Fall wunderbar verfilmt. Also, das Mädchen bricht aus, sie ist auf der Suche nach der Stimme auf der Kassette, die sie verbotenerweise gehört hat, und fährt nach Las Vegas. Was natürlich auch ein ganz großer Gegensatz ist zu ihrem Zuhause, wo sie aufgewachsen ist.

Dietrich: Das ja fast aussieht wie in den 50er-Jahren! Ich musste zweimal nachrechnen, bis mir klar war, dass der Film wirklich 2011 spielt, weil, das sieht alles so alt aus, so also wirklich Jahrzehnte zurück …

Redpath: … die Klamotten, die sie trägt, also, wie die leben … Das scheint dem Jugendpublikum hier auf jeden Fall in Berlin auch richtig altmodisch vorzukommen. Aber wenn sie nach Las Vegas ausbricht, kommt sie natürlich in das Nachtleben, da gibt es auch Jugendliche, die ganz anders erzogen worden sind und die andere Probleme haben. Und sie setzt sich auf wundersame Art und Weise mit den Werkzeugen, die sie mitbringt aus ihrer Kindheit, sie setzt sich durch in dieser neuen Gesellschaft.

Dietrich: Was sind die Werkzeuge, die sie mitbringt?

Redpath: Das ist ein tiefer Glaube in sich selber, an Werte, glaube ich, also, bestimmte Werte, wie das ist in dieser Welt. Und das ist natürlich ein Kontrast, ein ganz großer Kontrast zu dem, was auf sie zukommt in Las Vegas, wo alles laut ist, wo es sehr viel Neonlichter gibt, wo die jungen Leute Musik spielen, was für sie verboten ist. Also, sie bringt einfach eine Naivität mit, eine Stärke, und sie setzt sich auf wundersame Art und Weise damit durch.

Dietrich: Das Berliner Publikum ist dann wahrscheinlich ja eher doch auf der Seite der Jugendlichen in Las Vegas, wenn man mal so die Herkunft betrachtet? Die wenigsten kommen wahrscheinlich aus streng religiösen Familien, sondern sie sind eher dieses … ja, auch eher diese abgeklärte, vielleicht neutrale Haltung?

Redpath: Das kann sein, es ist sehr individuell, wie die Jugendlichen in Berlin reagieren auf die Generation-Filme. Es gibt welche, die auch streng religiös erzogen sind, auch hier in Berlin. Ich glaube, ein Jugendpublikum ist sehr mit diesem Mädchen, ehrlich gesagt. Also, mit 15 … Also, das Publikum interessiert sich total für Gleichaltrige in verschiedenen Situationen in dieser Welt und wir geben … Also, bei Generation und auch in den anderen Sektionen der Berlinale geben wir ein Fenster in eine Kultur, und ich finde, dass die Jugendlichen in Berlin sehr toll und intelligent gegenüber solchen Konflikten reagieren und eine große Neugier haben gegenüber dem, was eine Religion betrifft.

Dietrich: Noch ein Film, der unter frommen Christen in Chile spielt, ist "Young & Wild", also "Jung und wild". Das ist der Titel eines Webblogs, in dem die 17-jährige Daniela von ihren sexuellen Erfahrungen erzählt, was die Familie nicht wissen darf, denn die ist Mitglied einer evangelikalen Sekte.

Redpath: Richtig. Als pubertierende, als neugierige junge Frau muss sie ausbrechen, sie muss wegbrechen von der Religion, um zu testen, was ihre eigenen Grenzen sind diesbezüglich. Die Grenzen, die nicht vorbestimmt sind von der Religion bezüglich der Sexualität, sondern ihre eigenen. Und das muss jeder junge Mensch machen meiner Meinung nach. Gucken, wo ihre individuelle Reise hinführt. Und sei es, dass sie für eine Zeit dann wegbrechen, ausbrechen, um zu testen, um zu gucken, was das für ein Mensch ist. Dann muss man auch über – ganz oft, also besonders die Jugendlichen ganz oft – über Grenzen hinausgehen, um zu sehen, wie ist zu weit, wo ist zu weit und wo komme ich dann wieder zurück?

Dietrich: Ein Ausbrechen ja auch nicht nur aus der Religion, sondern auch aus der Familie, …

Redpath: … ja …

Dietrich: … die ja gerade versucht, durch die Religion zusammenzuhalten.

Redpath: Richtig, es ist ein Korsett. Manche müssen nicht ausbrechen, die akzeptieren das, das weiß ich ganz genau. Aber andere müssen schon gucken, was sind ihre eigenen Werte.

Dietrich: Noch ein Film, bei dem es um das Thema Familie, Religion, Tradition auch geht, aber mit einer ganz anderen Anmutung, ist der türkische Film "Lal Gece", also "Nacht der Stille". Und damit ist die Hochzeitsnacht gemeint, die einer ungefähr 13-Jährigen, die an einen wesentlich älteren Mann verheiratet wird.

Redpath: Richtig.

Dietrich: Was hat Sie an diesem Film gereizt?

Redpath: Also, das Filmische hat mich erst mal an diesem Film sehr doll gereizt. Ich finde, das ist ein Kammerspiel. Das meiste findet statt in der Hochzeitsnacht, in dem Raum, wo Mann und Frau sich das erste Mal begegnen, wo sie ihren Schleier abnimmt und wo er weiß, dass er am Ende dieser Nacht beweisen muss, dass er mit diesem jungen Mädchen geschlafen hat und dass sie Jungfrau ist. Das ist ein Riesendrama, das ist ein großes Drama, wir wissen das. Dieser Film spielt in der Türkei, wir wissen, dass in der Türkei in manchen Gegenden jede zweite Ehe eine Zwangsehe ist und dass die Mädchen immer jünger werden. Und das reizt mich sehr. Also, ein Film, der wunderschön gemacht ist um dieses Thema. Und was mich auch reizt ist, auch mit einem jugendlichen Berliner Publikum dieses Thema zu diskutieren.

Dietrich: Beim Thema Zwangsehe, da liegt es ja ganz nahe, die Religion, also den Islam dafür verantwortlich zu machen. Ich finde, das macht dieser Film gerade nicht, der macht das auf eine ganz, ganz subtile Art und Weise, dass er das auseinandertrennt, was Religion ist, was Tradition ist. Sind Sie sich sicher, dass sich das vermittelt, auch an junge Zuschauer?

Redpath: Ich bin nie sicher, das muss ich wirklich sagen. Also, ich bin immer sehr gespannt auf die Reaktion unseres jugendlichen Publikums und ich denke, das ist wie bei Erwachsenenfilmen: Manche kriegen es mit, manche stellen sich Fragen und es ist ein Film als Anstoß. Und genau so ist das bei Jugendlichen. Was mich auch interessiert an diesem Film, ist, dass man nicht nur die Geschichte des Mädchens erfährt – das wäre klassisch –, sondern man kriegt auch mit, was für ein Drama das ist für diesen wesentlich älteren Mann. Seine Backstory ist sehr, sehr dramatisch, finde ich. Also, der musste zwei Ehrenmorde begehen und dann haben die Leute in seinem Dorf gesagt, ja, – also, als er aus dem Gefängnis kommt –, jetzt musst du dieses Mädchen heiraten. Und seine Verzweiflung ist sehr in diesem Film auch mitzufühlen, mitzukriegen. Der Film stellt viele Fragen.

Dietrich: "Electrick Children" und "Young & Wild", die gehen ja extrem kritisch mit dem evangelikalen Christentum beziehungsweise dem mormonischen Glauben um. Wäre das bei einem Film aus der islamischen Welt auch denkbar?

Redpath: Ja, das wäre denkbar. Wir bekommen … Also, es ist auch Jahr für Jahr sehr anders, also, sehr verschieden, welche Filme wir auswählen oder zur Auswahl bekommen. Und ich denke, so eine Art Selbstkritik ist schon drin in der islamischen Welt, aber auch in anderen Religionen dieser Welt. Und im Grunde genommen, was auch interessant ist, ist auch, sind nicht nur die genannten Religionen, sondern die Spiritualität, was das für eine Rolle spielt für junge Leute. Und es gibt schon Filme, die wir zeigen, wo die jungen Leute, die Protagonisten, die Filme von der Spiritualität … Das kommt ganz unerwartet manchmal, das ist nicht unbedingt eingewickelt und benannt als eine bestimmte Religion. Aber es kommt manchmal von ihren indigenen Hintergründen. Also, das gibt auch den jungen Leuten eine gewisse Stärke. Es ist nicht, dass sie immer rebellieren gegen das, was sie brauchen, um weiterzukommen. Aber um weiterzukommen, müssen ganz viele jungen Leute wohl rebellieren.

Dietrich: Die Kirchen – ich habe es eingangs gesagt – waren früher sehr kritisch gegenüber dem Film und setzen heute eher große Hoffnung da hinein, dass die Filme nämlich Werte vermitteln sollen, wo auf die Kirchen und ihre Angebote schon lange nicht mehr gehört wird. Sie haben ja nun große Erfahrung mit solcher Vermittlungsarbeit: Kann das funktionieren oder überfrachtet man Filme damit?

Redpath: Also, Film funktioniert auf vielen verschiedenen Ebenen und Arten und Weisen. Und ich denke, also, die Filme, die wir zeigen, versuchen nicht zu vermitteln, dass man wieder zurückkehren müsse zu Religion oder sonst irgendwas. Also, unser Auftrag ist überhaupt nicht pädagogisch. Also, da sehen wir unseren Auftrag nicht. Es gibt pädagogische Projekte, die drum herum um die Sektion Generation sind, aber unser Auftrag ist eigentlich, gute Filme, also gut gemachte Filme, Qualität an die jungen Leute zu liefern. Also, ihre Reaktionen auf diese Stoffe – und das sind ganz unterschiedliche, ganz verschiedene Stoffe –, das ist, was uns interessiert bei Generation. Diese Dialoge, dieser Diskurs, aber was sie auch untereinander haben, wenn sie selber einen Film sehen und sie sind selber in einer kritischen Situation in ihrer Realität, ihrem Leben, und sehen einen Film, der das berührt, was sie jetzt gerade durchmachen oder wie sie sich fühlen, fühlen sie sich nicht mehr alleine. Und das ist eine ganz große Sache. Das hilft und dann reden sie mit ihren Eltern darüber oder mit ihren Freunden oder mit uns, und das ist eine Unterstützung für sie. Das ist eine Unterstützung, die unglaublich viele junge Leute in dieser Gesellschaft brauchen. Das ist nicht gerade religiös, aber es hat damit zu tun, welche Werkzeuge bekommt man auch von Filmen, um weiterzukommen, im positiven Sinne.

Dietrich: Religion, Film, Sinnstiftung im Film, ganz speziell auch in den Filmen des Jugendprogramms 14plus der Berliner Filmfestspiele. Ich sprach vor dieser Sendung mit Maryanne Redpath, der Leiterin der Berlinale-Sektion Generation.


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