Berlinale 2017

"Vollmundiger Jahrgang mit kratzigem Abgang"

Die ungarische Autorin und Regisseurin Ildikó Enyedi posiert nach der Preisverleihung auf dem roten Teppich der Berlinale vor Fotografen.
Was bleibt von diesem Berlinalejahrgang? Die Regisseurin Ildikó Enyedi zählt jedenfalls zu den Favoriten. © dpa picture alliance/ Jens Kalaene
Katja Nicodemus und Peter Körte im Gespräch mit Susanne Burg und Patrick Wellinski · 18.02.2017
Das Gleichnis eines guten Weines fällt der Filmkritikerin Katja Nicodemus zum Wettbewerb des diesjährigen Berliner Filmfestivals ein. "Ich habe wenig gesehen, was mich umgehauen hätte", hält ihr Kollege Peter Körte dagegen.
War diese Berlinale ein guter oder schlechter Jahrgang? Wie ist die Bilanz nach zehn Festivaltagen, das wollten wir von der Filmexpertin Katja Nicodemus ("Die Zeit") und von ihrem Kollegen Peter Körte ("FAS") wissen.
Peter Körte: "Ich fand den Wettbewerb nicht überragend. Aber es gab auch keine Tiefpunkte, wie es sie in den vergangenen Jahren oft gab."
Katja Nicodemus: "Ein vollmundiger Jahrgang mit einem etwas kratzigen Abgang. Kratzig, das meine ich ganz positiv. Es gab viele Regisseure, die ich nicht kannte und deren Bilder und Geschichten sich widerborstig festgesetzt haben im Kopf."
In den 18 Filmen des Berlinale-Wettbewerbs erlebten die beiden Kritiker "osteuropäische Regisseurinnen, die sich neu erfunden haben" ("On Body and Soul"), Altvertraute wie den finnischen Regisseur Aki Kaurismäki ("The Other Side of Hope") und Filme, die von der Erosion sozialer Verhältnisse und auseinanderbrechenden Familien erzählen wie der portugiesische Film "Colo". Der chinesische Animationsfilm ("Have a Nice Day") am Schluss habe sie umgehauen, sagt Katja Nicodemus.
Volker Schlöndorff, Regisseur von "Rückkehr nach Montauk", mit den Darstellern Nina Hoss und Stellan Skarsgård.
In "Rückkehr nach Montauk" besuchen Max (Stellan Skarsgård) und Rebecca (Nina Hoss) den Schauplatz ihrer einstigen Liebe am Strand von Montauk.© © Wild Bunch Germany 2017 / Ann Ray

Liebesgeschichten am Strand und auf dem Schlachthof

Eine Reihe von Beiträgen drehte sich um das Thema Trennung und die Trauer um vergangene Lieben.
Peter Körte: "Bei den verpassten Lieben fällt mir Volker Schlöndorffs 'Return to Montauk' ein. Da habe ich mich am allermeisten gelangweilt: Ältere Herren im gehobenen Mittelstand, die sehr selbstmitleidig und mit Anflügen von Selbstherrlichkeit über ihr Leben sinnieren. Das hat etwas Nabel beschauendes, was mich wahnsinnig genervt hat."
Der ungewöhnlichste und schönste Liebesfilm kam für Katja Nicodemus aus Ungarn. In "On Body and Soul" treffen sich ein Mann und eine Frau, die in einem Schlachthof arbeiten, zunächst nur im Traum. Sie wissen, dass sie füreinander geschaffen sind, aber es dauert lange, bis sie zueinander finden.
Katja Nicodemus: "Der Film kommt von einer Regisseurin, von der man lange nichts gehört hat. Vor 30 Jahren ungefähr hatte sie mal einen Erfolg in Cannes und galt als große Nachwuchshoffnung – und ward nicht mehr gesehen. Jetzt erfindet sie sich mit dem Film, den man in nichts einordnen kann, noch einmal neu – außer vielleicht in eine osteuropäische metaphorische Erzähltradition."
Szene aus "Toivon tuolla puolen" ("Die andere Seite der Hoffnung) von Aki Kaurismäki.
Der syrische Flüchtling Khaled landet im Film "Die andere Seite der Hoffnung" bei Restaurantbesitzer Wikström.© Malla Hukkanen © Sputnik Oy

Poesie der Arbeitswelt

Am meisten hat Peter Körte Aki Kaurismäkis "The Other Side of Hope" (Die andere Seite der Hoffnung) überzeugt:
"Wenn es einen gibt, der von den Erniedrigten, Beleidigten, von der Arbeiterklasse, wenn das Wort noch benutzen will, gibt, dann ist es Aki Kaurismäki. Und er findet immer diejenigen, die am meisten getrieben sind, die umherirren – nämlich die Flüchtlinge. Er nähert sich dem Thema mit einer scheinbaren Naivität und einer einfachen Klarheit, die manchmal ins Märchenhafte geht, aber immer geerdet ist."

"Zur falschen Zeit im falschen Film"

Die deutschen Filme im Wettbewerb, Teil 2 des Gesprächs (8:46 min.):
Drei Filme im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb tragen die Handschrift von deutschen Regisseuren. Von Nina Hoss in "Return to Montauk" (Rückkehr nach Montauk) zeigt sich Katja Nicodemus "sehr bewegt und hingerissen", während Peter Körte bemängelt:
"Nina Hoss und Susanne Wolf, zwei wunderbare Schauspielerinnen, den ich stundenlang zugucken könnte. Nur zur falschen Zeit im falschen Film."
Der Film "Helle Nächte" von Thomas Arslan erzählt von einer Vater-Sohn-Geschichte in der großen Landschaft von Norwegen. Beide hatten viele Jahre nichts miteinander zu tun und versuchen sich hier unter Mühen wieder anzunähern. "Wie sie aus der gemeinsamen Sprachlosigkeit herausfinden, fand ich interessant", sagt Nicodemus, während Körte Arslan einen "Ereignis-Vermeidungs-Weltmeister" nennt. Er solle doch "den Plot nicht scheuen, wie der Teufel das Weihwasser".
Der Jungschauspieler Tristan Göbel auf den 67. Internationale Filmfestspiele in Berlin bei einer Pressekonferenz über seinen Film "Helle Nächte"
Nach Ansicht von Katja Nicodemus spielt Tristan Göbel in "Helle Nächte" den Sohn als "halbpubertären Muffpott".© picture alliance / Rainer Jensen / dpa
Beide Kritiker loben den Dokumentarfilm über "Beuys" von Andres Veiel. "Die 60er-, 70er-Jahre kommen uns hier mit einer Kraft und all ihren Schattenseiten noch mal entgegen.", sagt Peter Körte und Katja Nicodemus ergänzt: "Ich habe sehr viel erfahren über die Vitalität von Joseph Beuys, über das Wesen dieses Künstlers."
Filme wie "Axolotl Overkill" von Helene Hegemann und "Wild" von Nicolette Krebitz hatten nicht bei der Berlinale, sondern beim US-amerikanischen Sundance Festival Premiere. Sie hätten – ebenso wie Romuald Karmakars Dokumentarfilm "Denk ich an Deutschland in der Nacht" über die deutsche Szene der elektronischen Musik, der in der in der Sektion Panorama lief -, auch gut in den Wettbewerb gepasst, findet Körte:
"Das sind Filme, die eine etwas andere Seite des deutschen Kinos repräsentieren, die offenbar ganz gezielt nach Sundance gehen, nicht nur weil es ökonomisch vielleicht interessanter ist, sich mit amerikanischen Verleihern dort zu treffen, sondern weil man dort auch hofft, auf einen schöneren Resonanzraum zu treffen als auf der Berlinale."
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