Berlin

Spreeathen, Chicago Europas, das neue New York

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Von Athen und Chicago ist bei den Berliner Beinamen heute kaum mehr die Rede. © picture alliance / dpa
Von Claus-Stephan Rehfeld · 16.10.2014
Berlin und seine Beinamen. Der US-Schriftsteller Mark Twain verpasste der preußischen Metropole im Jahr 1892 einen neuen: Sein Vergleich mit Chicago überstrahlte das bis dahin beliebte Spreeathen. Aber dabei ist es nicht geblieben.
Erst wurde die Antike ausgegraben, dann Amerika entdeckt. Ja, in Berlin wird nicht gekleckert, hier wird geklotzt.
Anno 1706. Berlin ist noch preußische Hauptstadt, da greift Erdmann Wircker zur Feder. Der "Jurist im Brandenburgischen", von anderen nur als "Dichter" tituliert, feilt an einem Lobgesang für seinen Landesherren. Das 200-jährige Bestehen der ersten brandenburgischen Landesuniversität gilt es zu würdigen, der Alma Mater Viadrina. Die steht in Frankfurt an der Oder, aber Friedrich I. hat sich auch an der Spree verdient gemacht, so sehr:
"Dass ganz Europa nicht von einem Fürsten hört,
Der so der Künste Kern als König Friedrich liebet.
Die Fürsten wollen selbst in deine Schule gehen.
Drum hast Du auch für Sie ein Spreeathen gebauet."
Der Ehrenname ist raus. Und er wird bleiben, lange bleiben: Spreeathen. Berlin kann 1706 der Wiege der abendländischen Kultur zwar lange noch nicht das Wasser reichen, die Akademie der Künste und die Societät der Wissenschaften sind noch auf dem Weg dorthin. Ja, unter Friedrich I. wird aus der Stadt eine große Stadt – mit vielen klassizistischen Bauwerken.
Wir notieren den 3. April 1892. Die "Chicago Daily Tribune" veröffentlicht den sechsten und letzten Reisebrief eines Amerikaners, den sie aus Berlin erhalten hat. "The Chicago of Europe" by Mark Twain. Der Verfasser bezieht nach seiner Reise durch ein romantisches Deutschland in einem brodelnden Kessel Quartier. Die Stadt überrascht ihn, hatte er doch ein altes Berlin in seinem Kopf. Nun sieht er eine Stadt, in der das alte, das barocke Berlin verschwindet. Moderne versus Tradition. Die Industrie und der Maximalgewinn formen sich ihr Terrain. Das "deutsche Chicago" wird zum geflügelten Wort.
Kaiserstadt, Mauerstadt, Hauptstadt
1899 fasst der 32-jährige Großindustrielle Walter Rathenau die Streifzüge durch seine Geburtsstadt zusammen. Noch anonym, aber unmissverständlich: "Spreeathen ist tot und Spreechicago wächst heran." Die großen Hauptstraßen kommen ihm vor wie "entsetzliche Frühgeburten polytechnischer Bierphantasien".
Berlin wird den Vergleich mit Chicago auf Jahre nicht mehr los. Mal kommt er als Ausdruck der Bewunderung daher, mal als Formulierung des Erschreckens.
Spreeathen, Kaiserstadt, Hauptstadt, deutsches Chicago, Spreechicago, Frontstadt, Mauerstadt, getrennte Stadt, Glücksstadt (am Tag des Mauerfalls).
Vor einigen Wochen nun teilte uns ein Boulevardblatt mit "Berlin ist das neue New York". Ein amerikanischer Schriftsteller war da ein paar Tage später noch etwas vorsichtiger in der Wortwahl. Die "sehr kosmopolitische", aber "sehr zerklüftet(e)" Stadt erinnert ihn "an das New York der 70er und 80er Jahre". Und die Stadt, glaubt er, "ist gerade dabei, sie selbst zu werden". Nun, veröffentlicht wurde der Beitrag mit der Schlagzeile "Berlin wird das neue New York". Hat er das wirklich gemeint? Wir sind gespannt … wie und was Berlin nun wirklich wird.
Wie es heißt doch so schön in einem Lied, das jeder Urberliner mit geschlossenen Augen singen kann:
"Lieber Leierkastenmann,
fang noch mal von vorne an,
von dem schönen Spreeathen,
wo sojar de Blinden sehn."
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