Berichterstattung aus dem Nahen Osten

Orientalische Märchen anstatt Journalismus

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht am 7. August 2016 bei einer Großkundgebung in Istanbul, bei der Hunderttausende gegen den Mitte Juli gescheiterten Militärputsch demonstriert haben.
Wie ernst ist die politische Lage in der Türkei? Und wie nehmen die Korrespondenten sie wahr?, fragt die Autorin Sabine Küper-Büsch © AFP - Ozan Kose
Von Sabine Küper-Büsch · 02.11.2016
Die Türkei und ihre Nachbarstaaten kommen nicht zur Ruhe, und was wir davon wahrnehmen, muss beunruhigen. Doch was nehmen wir durchs Auge deutscher Korrespondenten überhaupt wahr? Die ortsansässige Autorin Sabine Küper-Büsch wundert sich über manches, was sie in deutschen Medien über ihr Berichtsgebiet liest.
Kara Ben Nemsi heißt der Ich-Erzähler in den Orient-Romanen von Karl May. Ben Nemsi ist ein Deutscher, der zusammen mit seinem Führer Hadschi Halef Omar durch Nordafrika und den Nahen Osten reist. Sie erleben dabei zahlreiche Abenteuer.
Kara Ben Nemsi ist in den Texten stets heroisch mutig und überlegen redegewandt. Er begegnet edlen Eingeborenen und üblen Schurken. In der Wortwahl werden blumige Metaphern zur Beschreibung des Fremden bemüht, die im Unterbewusstsein des deutschen Publikums einen bleibenden Eindruck des Orient und seiner Merkwürdigkeiten hinterlassen haben. Titel wie "Durchs wilde Kurdistan" beinhalten Kleinode des deutschen Orientalismus.
Hat der sich überlebt? Keinesfalls. Gerade in jüngster Zeit sprießt die Saat des Kara Ben Nemsi und seiner Heldenreisen überall in der deutschen Medienlandschaft.
So beginnt der Korrespondent eines großen deutschen Nachrichtenportals ein angebliches Interview mit einem Rekrutierer des Islamischen Staates mit "Assalamu alaikum" und klärt sein extremistisches Gegenüber darüber auf, dass dies "Frieden sei mit Dir" heiße.
Daraufhin folgt der faszinierte Leser einem Streitgespräch, das verblüffend der Kara-Ben-Nemsi-Rhetorik folgt. Überlegen kann der Journalist dem überrumpelten Terroristen vom Islamischen Staat die Leviten lesen. In seiner Religion gehe es um Frieden, nicht um Krieg. "Finden Sie, dass diejenigen, die anderen Menschen den Kopf abschneiden, gute Muslime sind?", fragt der Journalist etwa. Ein angesichts der Grausamkeiten von Vertretern des Islamischen Staates unglaubwürdiges Auftreten.

Beliebtes Thema: Schlepperschurken

Mit Extremisten ist gemeinhin nicht gut Kirschen essen, aber Papier ist geduldig. Die Einleitung des Interviews suggeriert Brisanz: "Die Bedingungen des Islamisten sind streng: Kein Foto, keine Tonaufnahmen, seinen richtigen Namen verrät er sowieso nicht. Ebenso wenig, aus welchem Land er stammt, nur dass er Araber sei."
So manifestiert der Autor vor allem die Unüberprüfbarkeit des Wahrheitsgehaltes der Geschichte. Vielleicht hat Kara Ben Nemsi auch mit Hadschi Halef Omar gesprochen statt mit einem Vertreter des Islamischen Staates. Wer kann das schon wissen?
Schein-Flüchtlinge und Schlepperschurken sind ebenfalls ein beliebtes Thema. Auf einer ganzen Seite schilderte der Korrespondent einer großen Tageszeitung im Oktober 2016 die Machenschaften räuberischer Syrer in der Mittelmeerstadt Mersin. Demnach beschwerten sich die Einheimischen bereits, dass Unternehmer aus der syrischen Stadt Aleppo den Markt mit illegalen Machenschaften dominierten. Der ganze Text suggeriert, dass ein Großteil der Flüchtlinge aus ihrer Flucht Vorteile schlage.
Angesichts der fast kompletten Zerstörung von Aleppo eine beispiellose Ignoranz. "Exakte Zahlen liegen nicht vor, doch allein in Mersin sollen 45.000 Syrer leben", heißt es im Text weiter. Nun: Die syrische Mafia von Mersin ist ein reines Produkt der Phantasie. Ausländer können in der Türkei ohne türkische Partner gar keine Firmen gründen. Wenn, dann operieren sie dort in friedvoller Kooperation.
"Bang! Boom! Bang! Türkiye kaputt!" lautet die Überschrift eines Textes, der launig das türkische Demokratie-Desaster als vorübergehende Phase kolportiert, die halb so schlimm sei. Eine andere Autorin leitet einen Text über die fatale Schließung des letzten kritischen Fernsehsenders in der Türkei mit der Beschreibung des Chefredakteurs als gemütlichem Typ mit weißem Bart ein.

Der Wahrheit verpflichtet?

Diese Tendenz zu notorischer Verharmlosung vermittelt unweigerlich, dass in der Türkei andere Maßstäbe hinsichtlich der Verfügbarkeit von Freiheit und Rechtssicherheit als in Europa angelegt werden dürfen.
"Wir sind der Wahrheit verpflichtet", beschreibt ein deutsches Nachrichtenportal seinen journalistischen Auftrag pathetisch. Inşallah, würde Kara Ben Nemsi jetzt sagen: wenn Gott will.
Vielleicht könnte der Konflikt von Dichtung und Wahrheit mit der Auslobung eines "Goldenen Kara Ben Nemsi" angegangen werden? Ein Preis, der die frechste Kolportage im Kleid des Journalismus kürt. Schon die Nominierungsliste wäre vermutlich heilsam.
Sabine Küper-Büsch ist Filmemacherin und freie Journalistin mit Sitz in Istanbul. Ihr Dokumentarfilm "Pulverfass Türkei. Zwischen Demokratie und Diktatur” entstand im Sommer 2016 und wird im November bei ZDF-info gesendet. Für "Graffiti und Tränengas. Die Künstler der Gezi-Revolte" erhielt sie 2014 internationale Preise. Sie ist Vorstandsmitglied des Istanbuler Kulturvereins Diyalog, der internationale Kulturevents wider kulturelle Stereotype initiiert, sowie Chefredakteurin des Portals www.inenart.eu