Bergroman

Das Wandern und der Wahn

Daniel Haas · 03.01.2014
In dem Roman "Niedergang" wandert ein Pärchen durch die Alpen. Je höher sie steigen, desto weiter driften sie auseinander. Der Mann hält sich für so übermächtig wie die Berge, sie sehnt sich nach dem flachen Land.
Enge erzeugen in atemberaubender Weite. Aussichtslosigkeit, obwohl die Perspektiven malerisch und weitläufig sind. Bedrückung, auch wenn es hoch hinausgeht, dorthin, wo das Dasein buchstäblich luftig und erhöht ist. Das kann nur ein souveräner Erzähler, und Roman Graf hat in seinem Wanderroman diese paradoxe Dynamik zustande gebracht, einen Menschen auf einen Berggipfel zu jagen und ihn zugleich immer tiefer einzusperren in seine Selbstverkennung, seine Arroganz und Lieblosigkeit.
Es beginnt harmlos: André und Louise, er Schweizer, sie Deutsche und seit einigen Jahren seine Freundin, sind auf einer Tour durch die Alpen. Die Route ist genau geplant, denn André ist stolz auf sein alpines Knowhow. Das Bergsteigen ist für den Wahlberliner nicht nur ein Freizeitvergnügen, sondern auch eine Möglichkeit männlicher Selbsterbauung. Dass Louise, die Ostdeutsche, aufgewachsen in der sanft hügeligen Landschaft von Brandenburg, solche Touren grauenhaft findet, ficht Andre nicht an. Im Gegenteil: Er hat für die Flachländer letztlich nur Verachtung übrig.
Der Mann in der Rolle des romantischen Naturbezwingers: Graf hat mit André einen Typus aufgegriffen, der seit dem späten achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert die Literatur bevölkert. Seit Goethe in seinen "Briefen aus der Schweiz" erklärte, "nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen", ist das Wandern zur Kulturtätigkeit geworden. Der moderne Zeitgenosse erkennt im Bergmassiv das Urwüchsige, Erhabene, das sich erst bestaunen, dann bezwingen lässt.
Verweis auf Dandiel Kehlmanns "Vermessung der Welt"
Roman Graf macht den Gipfelsturm zum titelgebenden Niedergang: Je höher es hinaufgeht, desto tiefer wird die Kluft zwischen André und Louise. In Berlin haben sie im Sportclub noch gemeinsam die Kletterwände erklommen, hier nun kommt die Natur ins Spiel. Konkret heißt das: Granit, Schnee und Eis, aber auch die psychologischen Sedimente, jene Überlagerungen von Groll, Misstrauen und Angst, die das Paar im Lauf der Jahre zwischen sich aufgetürmt hat.
Souverän spielt der Autor mit der eigentlichen und übertragenen Dimension der Geschichte: Kraxeleien am Rande von Bergschluchten, die Durchquerung einer Höhlenpassage oder das Passieren eines Schneefelds, das sind auch Bewegungen der Subjekte aufeinander zu oder von sich und dem andern weg. André kommt gemäß seines Selbstbildes als Naturbursche und Willensmensch auf dem Gipfel ganz zu sich, hat dabei aber den Kontakt zur Welt verloren. Hierin liegt die scharfkantige Diagnose des Buchs: Dass die Höchstleistung in Abgehobenheit umkippt, wenn sie nicht sozial vermittelt und auf die Bedürfnisse anderer abgestimmt wird.
Grafs Text verweist auf ein literarisches Massiv deutscher Gegenwartsliteratur, Daniel Kehlmanns "Die Vermessung der Welt", und macht gegen Ende Anleihen bei dessen "Berg"-Kapitel. Anders als Kehlmann jedoch gönnt dieser Autor dem Helden keine heiteren Halluzinationen im Höhenrausch, sondern nur den Wahn der Großmannssucht. Und so kommt hier noch einmal Hochmut vor dem Fall – mit schlimmen Konsequenzen.

Roman Graf: Niedergang
Knaus Verlag, München 2013
205 Seiten, 17,99 Euro

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