Beredte Zeit der Trauer

20.03.2009
Lizzie Doron schreibt verstörend schöne Bücher über ein jüdisches Trauma. Erinnerungen an den Holocaust sind das Thema der studierten Linguistin aus Tel Aviv, Erinnerungen, von denen erst die Überlebenden gequält wurden und später ihre Kinder. Es gibt ein "hier" und ein "dort" in Dorons Novellen; "hier" ist Israel, ein fremdes neues Land, "dort" die zerstörte Heimat, das Land der Shoah, und dieses "dort" bleibt gegenwärtiger, näher, prägender als das "hier".
Um die destruktive Kraft des Vergangenen geht es auch in Dorons jüngstem Buch. Tel Aviv zu Beginn der Neunziger: Helena ist gestorben, die Mutter von Ich-Erzählerin Elisabeth. Elisabeth – Jahrgang '53, genau wie die Autorin – sieht sich als moderne Frau. Orthodoxe Traditionen hält sie für verstaubt. Nach der Beerdigung kommt sie in die Wohnung der Mutter, die Wohnung ihrer Kindheit, sie will aufräumen, doch sie wird gestört.

Zwei alte Frauen klingeln, Unbekannte, im Kerzenlicht sieht Elisabeth "die Nummern" auf ihren Armen; die Alten wollen an der Schiwa teilnehmen, dem siebentägigen Totenritual. Elisabeth ist ungehalten, sie möchte rasch heim zu Mann und Kindern. Dann aber bleibt sie, sie sitzt Schiwa, es wird eine eindrückliche Zeit. Täglich kommen Nachbarn – Fremde, Bekannte, verloren geglaubte Freundinnen –, sie reden, sie schauen zurück, und plötzlich, spät, versteht Elisabeth das Viertel ihrer Kindheit.

Ein seltsames Viertel, geformt von Flüchtlingen aus dem Land "dort", Menschen mit bizarren Gewohnheiten. Elisabeth erinnert sich. Ein Nachbar führte Monologe: "Ich will nicht schlafen, ich will nicht vergessen." Zwei Frauen stritten täglich lautstark auf Polnisch, ob das Krematorium im Westen oder im Osten des Lagers gestanden habe. Eine Mutter verbot ihrem Sohn zu duschen: "Das ist das Gas!" Auch Elisabeths Mutter hatte Ticks und Phobien. In einer Bankfiliale nach ihrer Adresse befragt, erwiderte sie: "Auschwitz, Baracke 2". Im Krankenhaus ließ sie sich das Haar blond färben – damit die Nazis sie nicht fänden.

Die Kinder der Überlebenden schämten sich ihrer Eltern, sie mochten die Albträume nicht länger teilen, und rasch zogen sie fort. Doch auch diese zweite Generation wurde dezimiert. Im Jom-Kippur-Krieg von 1973 starben viele Jugendfreunde Elisabeths. Die Mutter, verzweifelt: "Jetzt, da man uns unsere Kinder tötet, verlieren wir auch den Krieg von damals."

Lizzie Doron gehört ebenfalls zur zweiten Generation, zu jener Generation, die mit dem anklagenden Schweigen der Eltern leben musste. Elisabeths Geschichte ist ihre Geschichte, das Viertel ihr Viertel. Immer wieder, in fast allen Texten, nähert sich die Erzählerin dem Schicksal der Mutter und diesem komplizierten, zerbrechlichen Ding: Identität.

Für das neue Buch hat die Autorin eine so einfache wie überzeugende Gliederung gefunden – sieben Tage Schiwa, sieben Hauptkapitel. Auch die Sprache ist dem Stoff angemessen: lakonisch, distanziert und doch zu Herzen gehend. (Es gibt einen winzigen Makel – die Vorliebe der Verfasserin für klischeehafte Formeln: "Ich erstarrte", "Mir stockte das Herz".)

Der schlichte Titel – "Es war einmal eine Familie" – erweist sich im Verlauf der Lektüre als überraschend vieldeutig. "Familie", das ist eine Frau auf dem Weg zu ihrer Mutter, "Familie" meint zugleich jenes durch gemeinsames Leiden geeinte Viertel am Rand von Tel Aviv. "Familie" ist aber auch die durch immer neue Kriege bedrohte Gesellschaft, ist ein gefährdetes Land, von dem Lizzie Doron schon in der Vergangenheit erzählt: Israel.

Rezensent: Uwe Stolzmann

Lizzie Doron: Es war einmal eine Familie.
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Jüdischer Verlag, Frankfurt/Main 2009.
143 Seiten, 16,80 Euro.