Belletristik

Vision eines Gedächtnisses

Von Peter Urban-Halle · 20.03.2014
Vor anderthalb Jahren erschien ein Werk von Gaito Gasdanow (1903-1971) erstmals auf Deutsch, sein Roman "Das Phantom des Alexander Wolf" war eine große Entdeckung. Nun liegt sein Debüt vor, das 1930 in Paris auf Russisch herauskam – wieder ist es ein meisterhaft schönes Buch.
Ohne den Abend bei Claire, der dem Buch auch den Titel gibt, wäre diese Geschichte nicht denkbar, dieser Abend ist der Anlass der "langen Galerie von Erinnerungen", die uns der Ich-Erzähler Nikolai "Kolja" Sossedow schildert. Das Buch beginnt im Grunde mit dem Ende, mit einer Erfüllung nämlich, auf die Kolja zehn Jahre gewartet hat. Wir sind in Paris, Claires Mann ist verreist, endlich können Kolja und Claire sich erkennen. Das biblisch-verhüllende Wort passt hier gar nicht so schlecht, denn bisher hatte er sie geliebt wie keine andere – aber vielleicht noch nicht verstanden.
Dass die Erinnerungen von Melancholie und ein wenig Sentimentalität geprägt sind, darf nicht wundern. Kolja ist nicht nur ein Exilant (aus wohlhabender Petersburger Bürgersfamilie), der mit gerade mal 17 Jahren aus Russland flieht. Sondern ihm kommt auch in dem Augenblick, in dem ihm Claire endlich gehört, in den Sinn, dass "in jeder Liebe auch Traurigkeit steckt", entweder durch ihre Vollendung oder ihren Verlust.
Schönheit muss melancholisch und sentimental sein
Melancholisch und ein wenig sentimental ist dieses ganze schöne Buch, durch seinen Inhalt, mehr aber noch durch seinen Ton, seine Formulierungskunst, seinen Aufbau, der sich aus den Gedanken ergibt, die neue Gedanken erzeugen. Zuweilen formuliert er sie mit Worten, in denen der Symbolismus noch nachklingt und der Existentialismus schon anklingt, Worten, die zeigen, dass Schönheit wahrscheinlich immer melancholisch und ein wenig sentimental sein muss. Eine Schönheit übrigens, die durch das Deutsch von Rosemarie "Mascha" Tietze, einer Übersetzerin, die jeden Preis dieses Landes verdient hätte, auch für uns hör- und sichtbar wird.
Irgendwo bezeichnet Kolja seine Erinnerungen als "Vision meines Gedächtnisses". Wie später in Gasdanows "Phantom"-Roman ist zwischen Wirklichkeit, Imagination und Traum nie recht zu unterscheiden. Das gilt für die Gattung (autobiographische sind mit fiktiven Elementen vermischt) und für das Erzählte selbst (die "äußeren Ereignisse" werden immer wieder von Koljas "lautlosem Innenleben" übertönt). Selbst dort, wo er der Realität am nächsten zu sein scheint, bei den konfusen Revolutionskämpfen, präsentiert er uns eine Reihe von Mitkämpfern, deren Seele und Charakter ihm wichtiger sind als politische Überzeugungen oder militärische Bewegungen. Zwar kämpft er auf Seiten der Weißen, aber nur "weil ich mich auf ihrem Gebiet befand".
Begehren seelischer Art
Seine Teilnahme wirkt fast wie ein Selbstversuch, so wie er alle seine Erinnerungen daraufhin untersucht, welchen Erkenntniswert sie für seine Entwicklung haben. Kolja ist unsicher, immer wirkt er irgendwie verloren, als gehörte er nicht dazu, weder in der Schule, noch bei den Kadetten oder im Bürgerkrieg. Auch Claire gegenüber fühlt er sich fremd, sein Begehren ist seelischer Art. Aber es ist stark, er kann sie ja nie vergessen: Dieser wunderbare Roman beginnt und endet mit ihrem Namen.

Gaito Gasdanow: Ein Abend bei Claire. Roman
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze
Hanser Verlag, München 2014
191 Seiten, 17,90 Euro

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