Belletristik

Rastplätze mit noch jungen Bäumen

Eine Autobahn-Mautstation in Frankreich.
Eine Autobahn-Mautstation in Frankreich © picture alliance / dpa / Foto: Lars Halbauer
Von Tobias Lehmkuhl · 28.03.2014
Einen Monat fuhren Julio Cortázar und die Fotografin Carol Dunlop die französische Autobahn entlang, campierten auf Raststätten und beobachteten Ameisen und Raupen. Herausgekommen ist ein überraschendes Buch über das Leben auf und neben der Schnellstraße.
Die Autobahn ist ein prosaischer Ort, ein bloßer Transitraum, den man so schnell wie möglich verlassen möchte. Im Jahr 1982 allerdings sagten sich der Schriftsteller Julio Cortázar und seine Lebensgefährtin, die Fotografin Carol Dunlop: Der Weg ist das Ziel, und verbrachten einen ganzen Monat auf der Autobahn Paris-Marseille.
65 Rastplätze finden sich auf dieser Strecke, für jeden Tag, so sagten sich die beiden, sind das zwei. Und so sind sie zwar einen Monat lang auf der Autobahn unterwegs, fahren aber jeden Tag nur 15 oder 20 Minuten. Den Rest der Zeit verbringen sie gleich neben dem brausenden Verkehr, auf ihren geblümten Campingstühlen oder im Innenraum ihres kleinen VW Transporters, der ihnen die meiste Zeit auch als Nachtquartier dient.
Hören Schubert oder lesen Werner Herzog
Zwei Schreibmaschinen und ein Fotoapparat sind dabei, und so dokumentieren Cortázar und Dunlop ihre "Expedition“ Forschungsreisende nennen sie sich selbstironisch, denn ein Geschehen, das sich hätte dokumentieren lassen, gibt es eigentlich nicht. Sie beobachten die Ameisen, die sich über die Vorräte hermachen, betrachten Raupen, die sich aus den Bäumen fallen lassen, unter denen die Reisenden Schutz vor der brennenden Sonne suchen, hören Schubert oder lesen Werner Herzogs so ganz anders gearteten Bericht einer Fußreise von München nach Paris, "Vom Gehen im Eis“.
Selbstverständlich hat auch die Ereignislosigkeit ihren Reiz, können mikroskopische Beobachtungen faszinieren, doch braucht es, um die Spannung auf fast 400 Seiten aufrecht zu halten, ein Konzept, einen Willen zur Form. Im Gegensatz zur streng geradeaus gerichteten Autobahn, treibt "Die Autonauten auf der Kosmobahn" leider ganz uferlos dahin, weitgehend ein Sammelsurium von Gedanken Beobachtungen, beliebigen Tagebuchnotizen.
Kurz nach Ende der Reise starb Carol Dunlop, und Cortázar musste das Buch allein zum Abschluss bringen. Womöglich hat er es nicht nur als Ergebnis einer Forschungsreise, sondern auch als Dokument einer gemeinsamen Liebe gesehen, einer Erotik auch, die den Leser mitunter peinlich berührt. Da mochte es dem Autor als falsch oder zu schmerzliche erscheinen, irgendetwas von diesen letzten intensiv miteinander verbachten Tagen wegzulassen.
Bilder, die fesseln
So ist das Ereignis der Neuauflage dieses lange vergriffenen Buches in der schönen Bibliothek Suhrkamp die Fotodokumentation der Reise durch Carol Dunlop. Mag der Text weitschweifig und richtungslos sein, haben fast alle Fotografien, und es findet sich auf fast jeder Seite eine, etwas zu sagen, jede hat ihren Punkt, ja es gibt immer wieder dieses "punctum“, von dem Roland Barthes spricht, jenes Moment, das einen auf häufig unbegreifliche Weise an ein Bild fesselt.
Dunlops Fotografien sind klar und nüchtern, und tatsächlich gibt es auf französischen Autobahnen dieser Zeit nicht viel zu sehen, viel weniger Verkehr auch als heutzutage, und die Rastplätze mit ihren noch jungen Bäumen scheinen gerade erst angelegt. Und doch gelingt es Dunlop ein ums andere Mal, eine überraschende Perspektive auf die eigentlich leeren und öden Orte zu finden, den Bulli, einen Mülleimer oder irgendeinen anderen Gegenstand so ins Bild zu rücken, dass bei aller Sachlichkeit der Gegenstände eine Aura entsteht. Allein dafür lohnt es sich, das Buch aufzuschlagen.

Julio Cortázar, Carol Dunlop: Die Autonauten auf der Kosmobahn
Aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer
Suhrkamp, Berlin, 2014
358 Seiten, 22,95 Euro