Beliebter Kafka-Stoff

Der Käfer, das sind wir alle

Unser Bild zeigt einen Vertreter der größten Schwimmkäfer der Pazifikinsel Neuguinea, einen "Gauckler" (Gattung Cybister). Undatierte Aufnahme.
In Kafkas berühmter Erzählung wacht ein Mann auf und stellt fest, dass er sich über Nacht in ein Ungeziefer verwandelt hat. © picture alliance / dpa / Michael Balke
Von Stefan Keim · 03.01.2015
Auf deutschen Bühnen derzeit besonders beliebt: "Die Verwandlung" von Franz Kafka. Eigentlich ein Stoff, der für die Bühne schwer umsetzbar ist: Glaubhaft die Mutation eines Menschen in ein Insekt zu zeigen, das ist im Theater eine Herausforderung. Trotzdem wagen sich viele an den schweren Stoff - auf ganz unterschiedliche Weisen.
"Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt."
Das ist einer der berühmtesten ersten Sätze der Literaturgeschichte. Franz Kafkas Erzählung aus dem Jahr 1912 wurde psychologisch, symbolisch, politisch, autobiographisch bis ins Kleinste analysiert. Der Text schleppt eine Rezeptionsgeschichte mit sich herum, die manchen braven Theatermacher erschlagen könnte. Vielleicht sind es deshalb eher die positiv Verrückten, die sich mit Kafkas "Verwandlung" auf der Bühne beschäftigen.
Am Hamburger Schauspielhaus beginnt gerade der Ungar Viktor Bodó mit den Endproben. Er hat sich von seinem Landsmann Peter Karpáti eine Bühnenfassung schreiben lassen, die den Titel "Ich, das Ungeziefer" trägt. Karpáti fragt, ob sich Gregor Samsa wirklich verwandelt, oder ob seine Umgebung ihn nur als Ungeziefer betrachtet. Vielleicht, so der Dramatiker, ist es auch gar nicht schlimm, dass Gregor sich verändert. Seine Verwandlung könnte auch eine radikale Form des Protests sein gegen eine Gesellschaft, die ihn ausbeutet, quält und einengt. Befreit euch! Werdet Käfer! Könnte das Kafkas Botschaft sein? Nächsten Samstag ist Premiere, dann wissen wir mehr.
Regisseure greifen zu Mitteln der Groteske
Fast alle Inszenierungen der "Verwandlung“ haben eine ähnliche These. Nicht Gregor Samsa, der Verwandelte, ist das Monster, sondern die anderen. Die egoistische Familie, der Prokurist, der ihn zur Arbeit zwingen will, die Gesellschaft. Um das darzustellen, greifen die Regisseure zu Mitteln der Groteske. Besonders radikal tut das der ukrainische Regieextremist Andriy Zholdak am Theater Oberhausen. Hier bleibt Gregor Samsa als einziger völlig normal. Alle anderen setzen sich Tiernasen auf und stopfen sich spitze Zähne in den Mund. Sie sehen aus wie Ratten, wollen ständig fressen und beißen. Und plötzlich steht ein SS-Mann auf der Bühne. Zholdak beschreibt, wie sich die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts von allen Werten der Zivilisation verabschiedet. Menschen werden zu Bestien, und Kafka ist der Seismograph, der diese Entwicklung voraus gesehen und in groteske, grausame Bilder gefasst hat.
Kafka soll, wenn er "Die Verwandlung“ im Freundeskreis vorgelesen hat, von Lachkrämpfen geschüttelt worden sein. Er muss einen tiefschwarzen Humor gehabt haben, denn sein Käfer-Gregor stirbt am Ende, einsam, von allen verlassen, die Leiche wird einfach beseitigt. Soll man auf der Bühne wirklich einen Schauspieler ins Käferkostüm stecken? Darauf finden die Regisseure verschiedene Antworten. Albrecht Hirche am Theater an der Ruhr in Mülheim lässt Gregor Samsa krabbeln.
"Ich arbeite mich langsam jedem meiner Gefühle entgegen.“
Es stecken viele zentrale Themen in diesem Text. Die Ausgrenzung von Außenseitern, die Fremdbestimmung durch den Job, die Lieblosigkeit innerhalb von Familien. Überraschenderweise gibt es zwar Theaterbearbeitungen zuhauf, von Zürich bis Paderborn, aber kaum eine nennenswerte Verfilmung. Nicht einmal von Tim Burton, dem das Thema nahe liegen müsste. Die körperliche Konfrontation mit dem mutierten Gregor auf der Theaterbühne birgt allerdings einen besonderen Reiz. Es ist schwer, eine Distanz zum Insekt aufzubauen. Der Käfer, das sind wir alle.
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