Bei Dao

    Von Tobias Wenzel · 30.08.2013
    Warum hat Bei Dao als Kind seinen Vater gehasst? Und wieso wünscht er sich heute nichts sehnlicher, als das Grab seines Vaters zu besuchen?
    Bei Dao steht vor den marmornen Grabsteinen von Jacob und Wilhelm Grimm und fotografiert sie mit seiner Kompaktkamera. Dann steckt der chinesische Lyriker und Essayist den Apparat wieder in seinen Trenchcoat und trägt eines seiner Gedichte vor, das ihm wichtig ist wie kein anderes:

    "Für Vater

    In der kalten Februarfrühe
    eignet den Eichen letztlich das Maß der Trauer
    Vater, vor deinem Bild
    hütet allfälliger Wind die Ruhe des runden Tisches "

    Während Bei Dao die Verse über seinen sieben Jahre zuvor gestorbenen Vater liest, ist es, als gäbe es für den Autor in diesem Moment keine Brüder Grimm, keinen Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin, als stände Bei Dao vielmehr in Peking, an dem Grab seines Vaters, dem Grab, das er noch nie gesehen hat.

    "Ich darf nicht nach Peking zurückkehren. Das ist das Problem. Ich kann also auch nicht den Friedhof besuchen, auf dem er liegt."

    Seit 1989 lebt Bei Dao als Dissident im Ausland und im von China autonomen Hongkong. Von 2001 bis 2003 durfte er noch Frau und Tochter besuchen und dann von seinem sterbenden Vater Abschied nehmen. Doch zur Beisetzung ließ man ihn nicht mehr. "Trauerfeld" sagt man auf Chinesisch zum Friedhof. Das Grab des Vaters, das Feld zum Trauern, hat man Bei Dao genommen. So ist jeder andere Friedhof vor allem eins: nicht der Friedhof des Vaters.

    Und doch hat sich Bei Dao für diesen gemächlich ansteigenden Friedhof im Berliner Stadtteil Schöneberg entschieden: um das Grab der Brüder Grimm zu besuchen.

    Bei Dao auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof, Berlin
    Bei Dao auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof, Berlin© Tobias Wenzel/ Knesebeck Verlag
    "Als ich ein Kind war, habe ich ihre Märchen gelesen."

    Gedruckte Worte zogen Bei Dao magisch an. In seinem Elternhaus gab es zwei Arten von Büchern: offen zugängliche, wie die von Marx und Mao, und in einem Oberschrank verborgene. Mit sieben Jahren kletterte er, trotz einiger Stürze, immer wieder auf einen Stuhl, um an die verbotene Lektüre zu gelangen. Als sein Vater dahinterkam, schloss der den Schrank ab und versteckte den Schlüssel.

    "Als Kind habe ich meinen Vater gehasst. Deshalb habe ich mit dem Schreiben begonnen, um mich gegen ihn aufzulehnen."

    Einmal verbrannte der Vater ein Gedicht des Sohnes, aus Angst, man könne es als Kritik an der Kulturrevolution deuten. Heute vermisst Bei Dao seinen Vater, versteht längst dessen Angst von einst. Ob er, Bei Dao, eigentlich Angst vor seinem eigenen Tod habe, frage ich.

    "Natürlich. Aber ich muss lernen, diese Angst zu überwinden. Ansonsten denken wir Chinesen mehr über das Leben nach als über den Tod. Konfuzius hat gesagt: Wie willst du etwas vom Tod wissen, wenn du noch nicht einmal das Leben kennst?"

    "Bei Dao, Alter St.-Matthäus-Kirchhof, Berlin, Germany"