Begabte und Behinderte

Radikale Inklusion sprengt das Schulsystem

Schüler im Klassenzimmer einer Grundschule in Wiesbaden
Schüler im Klassenzimmer einer Grundschule in Wiesbaden © imago / MIchael Schick
Von Michael Felten · 15.01.2016
Radikale Inklusion helfe weder begabten noch behinderten Kindern, diene lediglich Sparfüchsen und Schulideologen. Der Kölner Lehrer Michael Felten will dagegen auf Förderklassen nicht verzichten, wohl aber auf eine Einheitsschule.
Jetzt also auch bei unseren Kindern, in den Schulen - das TINA-Prinzip. TINA, Sie wissen schon, das Akronym für "There is no alternative", alltagssprachlich: Da kommen wir nicht drumrum.
Was man bislang nur aus der hohen Politik kannte, findet sich neuerdings auch im Bildungsbereich: Dass es nämlich unumgänglich sei, die Schule grundsätzlich umzubauen, zur Inklusionsschule, zum gemeinsamen Lernen aller Kinder, vom Hochbegabten bis zum Schwerstbehinderten.
UNO verlangt keine Abschaffung von Sonderschulen
Eifrig wird dabei auf die Behindertenrechtskonvention der UN verwiesen. Sie fordert, allen Menschen freien Zugang zum allgemeinen Bildungswesen zu geben - zu Recht, denn in vielen Ländern sind Kinder mit Handicaps bislang vom Schulbesuch ausgeschlossen.
Hierzulande haben indes einige Ideologen den rigorosen Schluss gezogen, Deutschland müsse seine Sonderschulen abschaffen und alle Kinder mit besonderem Förderbedarf in den normalen Unterricht integrieren. Nun kann man durchaus bestimmte Schüler mit speziellen Beeinträchtigungen integrativ unterrichten, aber das kostet Geld und funktioniert nicht bedingungslos.
So sind etwa körperbehinderte Kinder gut im Regelunterricht aufgehoben, wenn die Ausstattung stimmt. Auch könnten Migrantenkinder ohne anfängliche Deutschkenntnisse ein Gymnasium besuchen, wenn ihr kognitives Potential den Anforderungen dieser Schulform entspricht und sie dort "Deutsch im Crashkurs" lernen.
Aber es gibt Grenzen des Gemeinsamen. Schnelle Lerner haben auch ein Recht auf Herausforderungen und Schwächere brauchen Schutz vor ständigem Bestenvergleich.
Inklusion als Sparmodell wird nicht gelingen
Die radikale Inklusionsschule ist aber nicht nur eine Illusion, sondern auch ein Sparmodell. Regellehrer, deren Schülerschaft bislang schon heterogen genug war, bekommen nun lernbehinderte, verhaltensauffällige oder geistig behinderte dazu - worauf man sie in Wochenendseminaren flüchtig vorbereitet.
Hoch qualifizierte Förderlehrer dagegen, bislang mit ihren Schützlingen in ständigem Kontakt, rasen nun stundenweise beratend von Schule zu Schule. Und man wird ihre Stellen zukünftig noch erheblich kürzen wollen.
Erstaunlich ist, dass besagte UN-Konvention gar nicht verlangt, dass wir unsere Förderschulen abschaffen. Diese sind ja der Teil des allgemeinen Schulsystems, der spezifische Unterstützung bietet. Solche besonderen Maßnahmen aber gelten vertragsgemäß gerade nicht als Diskriminierung.
Gemeinsames Lernen, das klingt paradiesisch, aber man wird den Eindruck nicht los, als verstecke sich dahinter ein Trojanisches Pferd. Denn letztlich würde die konsequent durchgeführte Inklusion das Schulsystem sprengen. Wir hätten dann landesweit eine Einheitsschule. Darüber brauchen wir mehr offene Debatte, ohne Blockade durch Maulkörbe oder Denktabus.
Unterrichtsqualität, nicht Schulstruktur ist entscheidend
Kinder mit und ohne Behinderung sind kein Spielball - weder für Sparfüchse noch für Schulideologen. Denn es gibt eine Alternative: so viel hochqualitative Integration wie möglich, so viel durchlässige Separation wie nötig!
Jedes Kind soll an dem für es sinnvollsten Ort lernen können - und dies kann durchaus wie weltweit üblich auch eine Spezialschule oder Separatklasse sein. Entscheidend sind Unterrichtsqualität und Förderressourcen, nicht aber die Schulstruktur.
Schon kämpfen zahlreiche Elterninitiativen für den Erhalt der Förderschulen und damit ihrer Wahlfreiheit. Man könnte auch Leserbriefe schreiben darüber, wie sich die Zustände in inklusiven Klassen von den Bildern in Hochglanzbroschüren unterscheiden.
Nicht zuletzt sind beamtete Lehrer eigentlich verpflichtet, gegen untragbare Zustände zu remonstrieren, bei ihrem Dienstherrn Einspruch zu erheben. Also nicht TINA, sondern TATA: There Are Thousands of Alternatives!
Michael Felten, geboren 1951, arbeitet seit über 30 Jahren als Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst in Köln. Er ist Sachbuchautor, Dozent in der Lehrerausbildung und berät Schulen bei ihrer Entwicklung (www.eltern-lehrer-fragen.de). Ihm geht es darum, den Praxiserfahrungen der Lehrer und den Befunden der Unterrichtsforschung mehr Gehör in der Bildungsdebatte zu verschaffen. Zum UN-Weltkindertag hat er eine neue Info-Plattform zur Inklusionsdebatte eröffnet: www.inklusion-als-problem.de
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