Bedroht, verdrängt, verstorben

20.07.2012
Wir Menschen der Moderne leben in einer Epoche des Artensterbens und sind selbst dafür verantwortlich. Detailreich und einfühlsam erzählt der Biologe Lothar Frenz die Geschichte einzelner Arten, die einst das Leben auf der Erde bereicherten, heute jedoch ausgestorben oder bedroht sind.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verdunkelten noch hunderte Millionen Wandertauben den Himmel über Nordamerika. An den Ruheplätzen der Tiere fielen die weißlichen Taubenexkremente wie Schneeflocken von den Bäumen und bedeckten die Landschaft mit einer hellen, stinkenden Schicht. Aber nicht einmal hundert Jahre später, am 1. September 1914, verstarb Martha, die letzte Wandertaube, im Alter von 29 Jahren im Zoo von Cincinnati.

Die Suche nach den Ursachen für das Aussterben der Wandertauben ist kompliziert. Wahrscheinlich konnten die Vögel nur in riesigen Schwärmen überleben. Als die Menschen die Landschaft Nordamerikas veränderten und viele Tauben einfach abschossen, wurden die Schwärme kleiner, wurden zu leichten Opfern für ihre Feinde und konnten schließlich nicht mehr überleben. Andere Gründe für das Aussterben von Arten sind die weltweite Verbreitung einzelner Arten, die andere verdrängen, der Klimawandel oder die Überdüngung. Nicht immer, aber meistens trägt der Mensch direkt oder indirekt die Hauptschuld am Verschwinden der Arten – auch dann, wenn er nichts Böses im Sinn hatte.

Besonders kurios ist das Aussterben einer nur anderthalb Millimeter großen Laus. Sie lebte Jahrtausende unentdeckt im Gefieder des kalifornischen Kondors, eines riesigen Vogels mit bis zu drei Metern Flügelspannweite. Mit ihren winzigen Beinchen klammerte sich die Laus in die schwarze Halskrause des Kondors. Um die letzten Exemplare des Kondors zu retten, begannen Artenschützer mit der Zucht der bedrohten Tiere. Zur guten Pflege in der Zuchtstation gehörte auch eine Befreiung von lästigen Parasiten. Der kalifornische Kondor überlebte. Die Laus, die nur auf dem Kondor lebte, verschwand für immer. Sie wurde zum Opfer eines Artenschutzprogramms.

Auch beim Aussterben der Riesenschildkröten auf den Galapagos-Inseln versuchen sich Menschen als Retter. Nur ein Exemplar der Unterart von der Insel Pinta überlebte das Eindringen der Menschen: "Lonesome George". Der einsame Schildkrötenmann wurde zum Symbol einer bedrohten Tierwelt. "Gibt es noch ein Happy End für Lonesome George?", fragt das Buch von Lothar Frenz. Als er sein Buch schrieb, gab es noch Hoffnung, aber kurz vor dem Erscheinen dieses Buches verstarb Lonesome George, ohne sich fortgepflanzt zu haben. Das ist das Ende einer weiteren Unterart, das im Buch noch nicht berücksichtigt werden konnte.

Lothar Frenz hat zahlreiche Informationen gesammelt und viele Orte, an denen Arten um ihr Überleben kämpfen, persönlich besucht. Er schreibt anschaulich und lebendig. So kann er seine Leser mitnehmen bei seinen Reisen zu den bedrohten Arten. Seine Geschichten zeigen eine Welt, die es so bald nicht mehr geben wird. Wer dieses Buch liest, lernt nicht nur viel über aussterbende und ausgestorbene Arten, sondern empfindet das Aussterben jeder Art als Verlust – für die Menschheit und für sich ganz persönlich.

Besprochen von Michael Lange

Lothar Frenz: Lonesome George. Das Verschwinden der Arten
Rowohlt Berlin, 352 Seiten, 19,95 Euro
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