Beck warnt vor Relativierung der NS-Verbrechen

Moderation: Birgit Kolkmann · 02.09.2006
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, Volker Beck, hat vor einer Relativierung von NS-Verbrechen gewarnt. Derzeit werde mit großem Druck daran gearbeitet, das Unrecht der Vertreibung neben das Unrecht des Nationalsozialismus zu stellen, so dass es relativierend wirke, sagte Beck. Unrecht subtrahiere sich nicht, sondern häufe sich auf, betonte er mit Blick auf den "Tag der Heimat" des Bundes der Vertriebenen.
Birgit Kolkmann: Heute werden an vielen öffentlichen Gebäuden Flaggen wehen und auch am Internationalen Kongresszentrum in Berlin. Denn dort findet der Festakt des Bundes der Vertriebenen am "Tag der Heimat" statt. Der wird traditionell am ersten Samstag im September begangen. Noch vor Jahren hätte eine solche Veranstaltung kein besonderes Medieninteresse mehr geweckt. Die aktuelle Diskussion über Flucht und Vertreibung und ihrer historischen Aufarbeitung macht das Treffen jetzt aber zu einem Politikum. Auch Bundespräsident Köhler wird sprechen und an einer Diskussion um die missratene Rede des stellvertretenden Kulturstaatsministers Schäfer letzten Freitag in Weimar nicht vorbeikommen. Nicht nur die Bundeskanzlerin hat Hermann Schäfer kritisiert, es kamen auch Rücktrittsforderungen aus der SPD und jetzt auch von den Grünen.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Bündnis-Grünen ist Volker Beck, jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!

Volker Beck: Guten Morgen.!

Kolkmann: Herr Beck, ist Schäfer der falsche Mann am falschen Ort? Wie ist da die Position der Grünen-Bundestagsfraktion.

Beck: Also wir meinen, Herr Schäfer sollte von seiner Position abgelöst werden. Er ist sicher der falsche Mann, um die Gedenkstättenpolitik und Gedenkpolitik der Bundesregierung mit zu koordinieren, wenn er im KZ Buchenwald bei einer Feierstunde den Fokus darauf richtet, dass das Unrecht an Deutschen, an den Vertriebenen begangen wurde und allein an diesem Ort eine solche Rede hält und sich kritisch auseinandersetzt mit der Geschichte des Gedenkens in unserem Land, die ein Relativierungszungenschlag hat. Und ich meine, diese Art von Diskussionsführung - und das in Gegenwart von Opfern des Nationalsozialismus - ist völlig deplatziert. Ich glaube, deshalb sollte man für ihn eine andere Funktion suchen.

Kolkmann: Der französische Vorsitzende des Häftlingskomitees Buchenwald-Dora, der ja auch anwesend war, befürchtete, dass möglicherweise, wenn die Zeitzeugen ausgestorben sind, dann ein ganz anderes Geschichtsverständnis Raum greifen könnte. Er will sich mit Schäfer treffen. Ist das die große Gefahr, die dahinter steckt?

Beck: Also die Gefahr muss man deshalb sehen, weil im Zusammenhang mit der Rede von Herrn Schäfer gesagt wurde, hätte er gewusst, dass Zeitzeugen, Überlebende im Raum wären, hätte er anders argumentiert und eine andere Rede gehalten. Das heißt, wenn in Zukunft Zeitzeugen nicht mehr zur Verfügung stehen, weil sie alle verstorben sind, dann werden nur noch solche anderen Reden gehalten. Das kann nicht sein, und da müssen wir auch ganz klar gegen Umdeutungsversuche der Vergangenheit uns zur Wehr setzen. Wir haben ja unter Rot-Grün das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in der Hauptstadt Berlin auch deshalb gebaut, weil wir gesagt haben, wir wollen die Erinnerung an diese Verbrechen des letzten Jahrhunderts mitnehmen, und die Lehre aus dieser schrecklichen Epoche der Geschichte muss für uns prägend sein als Nation und für unsere Zukunft und für die Frage, wie gestalten wir verantwortlich Politik.

Kolkmann: Nicht nur durch den Fall Grass, auch wegen der Ausstellung des Bundes der Vertriebenen "Erzwungene Wege" und deren geplantes Zentrum gegen Vertreibungen ist ja die Erinnerungskultur gerade in der Diskussion. Verschieben sich da im Augenblick tatsächlich die Gewichte?

Beck: Also ich habe das Gefühl, es wird da mit großem Nachdruck dran gearbeitet, neben das Unrecht des Nationalsozialismus sozusagen das Unrecht der Vertreibung zu stellen in eine Art und Weise, dass es relativierend wirkt. Selbstverständlich war das, was Vertriebenen geschehen ist - ich komme selber aus einer Vertriebenen-Familie - maßloses Unrecht, Menschen sind umgekommen worden, Frauen sind vergewaltigt, die Menschen haben Heim und Besitz verloren, das war natürlich ein Unrecht. Das bestreitet aber auch gar niemand. Es ist die Frage, ob man in der Rückschau dieses so aneinander aufreiht, dass man das Gefühl hat, na ja, jeder hat irgendwie in dieser Epoche seine Fehler gemacht, und das war dann im Endeffekt alles nicht so schlimm.

Das darf nicht das Geschichtsbild sein, was sich hier durchsetzt. Diese Relativierung muss man zurückweisen, und man muss deutlich machen, Unrecht, das subtrahiert sich nicht, sondern das häuft sich aufeinander auf. Und wir müssen zu den Lehren dieser Zeit natürlich dazu zählen, dass auch das Vertreiben von Menschen, die ethnische Homogenisierung - das sind ja Themen unserer Tage - genauso verheerend sind wie der Völkermord, den die Nationalsozialisten an den europäischen Juden, an den Sinti und Roma und an vielen anderen Gruppen begangen haben.

Kolkmann: Sie haben gerade die Verbindung zur Gegenwart gezogen. Auch Bundespräsident Köhler will am 21. September das Thema Integration in den Mittelpunkt seiner Berliner Rede stellen. Geht es jetzt auch darum, aktuell die Folgen von Vertreibung, von Migration und die Frage von Toleranz in den Mittelpunkt dieser aktuellen Fragen zu stellen?

Beck: Also ich finde wichtig, dass wir uns noch mal vergewissern, wie leben wir in dieser Gesellschaft zusammen? Wie gehen wir mit den Menschen um, die durch Flucht, durch Migration zu uns gekommen sind? Und das wir auch unsere eigene Identität neu definieren als Land, in dem jetzt viele Menschen auch leben, die eben hier nicht geboren sind oder deren Großeltern zumindest nicht aus Deutschland stammen. Und das heißt, wir müssen uns stärker auf die gemeinsamen Werte besinnen. Diese gemeinsamen Werte finden sich in unserer Verfassung, und diese Prinzipien müssen sozusagen ein Stück weit nationale Identität werden weil durch die verschiedenen Kulturen, die hier sind, natürlich andere Traditionselemente nicht mehr allgemein geteilt werden. Und dann muss man immer wieder danach fragen, was verbindet unsere Gesellschaft. Und nur, wenn wir das für uns geklärt haben, wird uns auch das Zusammenleben zwischen verschiedenen Kulturen, zwischen verschiedenen Ethnien, zwischen verschiedenen Religionen gelingen.

Kolkmann: Ein Interview zum "Tag der Heimat" mit dem Parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion, Volker Beck. Vielen Dank für das Gespräch.

Beck: Bitteschön.
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