Barometer für den Zustand der Beziehung

12.02.2013
Der französische Philosoph Alexandre Lacroix hat ein kluges Buch über das Küssen geschrieben - und amüsant ist es auch noch. Seine "Theorie des Kusses" ist ein Streifzug durch die Geschichte und nebenbei ein Plädoyer für das Küssen - leicht, elegant und nie verlegen.
Ein Philosoph, der ein Buch über das Küssen schreibt – der kann eigentlich nur Franzose sein. Jeder deutsche Philosoph, der etwas auf sich hält, würde das Thema wohl als zu operettenhaft von sich weisen. Und Alexandre Lacroix geht auch noch nicht streng wissenschaftlich vor und widmet das Buch "allen zärtlich Liebenden". Ja, ist der sonst so seriöse Verlag Matthes & Seitz denn verrückt geworden?

Ganz im Gegenteil, der Verlag hat genau hingesehen, mit dem Buch eine entzückende kleine Perle geborgen und bringt es nun pünktlich zum Valentinstag heraus.

Die Frau von Alexander Lacroix warf ihm eines Abends vor, sie zu selten zu küssen. Das führte bei ihm, ganz Philosoph, nicht zu mehr ehelichen Küssen, sondern zu diesem Buch. Lacroix macht darin einen Streifzug durch die Literaturgeschichte, entwickelt eine "Theorie des Kusses", hält ein Plädoyer für das Küssen und beschreibt ganz unverkrampft immer wieder eigene Kuss-Erfahrungen, aus denen er höhere Wahrheiten ableitet.

Lacroix stellt nämlich bei der Beschäftigung mit dem Thema fest: "Philosophen und Psychologen haben überreichlich Intelligenz darauf verschwendet, zu verstehen, was beim Geschlechtsverkehr vor sich geht, doch neigten sie dazu, den Kuss allzu stiefmütterlich zu behandeln."

Auch die Ursprünge des Kusses liegen historisch weitgehend im Dunkeln. Dabei gibt es über ihn einiges zu sagen: Er "markiert die Schwelle zur Adoleszenz" und ist für das Gefühlsbekenntnis wichtiger als der Geschlechtsakt – um eine Liebe, in der nicht mehr geküsst wird, steht es nicht gut; der Kuss ist das "Barometer für den Zustand des Paares". Und was für ein Liebesbeweis so ein morgendlicher Kuss sein kann, der sich durch die Rotwein- und Camembert-Dämpfe des Abendessens kämpfen muss!

Und Lacroix bringt den Kuss sogar als zivilisierendes Moment in unseren rabiaten Zeiten ins Spiel: "Indem wir, entgegen unserer eigenen pornographischen Hybris, diese Zärtlichkeitsbezeugung weiterhin zu schätzen wissen, tragen wir Sorge für den besten Teil von uns selbst." Seine Alltagsbeobachtungen unterfüttert Lacroix mit Beispielen aus Film, Malerei und Literatur, vor allem der französischsprachigen (weshalb die Küsse-Bisse von Kleists "Phentesilea" leider nicht vorkommen).

Lacroix' Betrachtungen sind kenntnisreich und originell und vor allem sind sie amüsant. Er kokettiert selbst damit, sich gelegentlich auf Frauenzeitschriftenniveau zu begeben, nur um im nächsten Absatz gleich wieder auf philosophisch, psychoanalytisch oder soziologisch abgesichertes Terrain zu springen. Und Lacroix hat einen Tonfall gewählt, der absolut seinem Thema entspricht: leicht, elegant, nie verlegen um ein Bonmot oder einen Aphorismus: "Seltsamer Kuss, dessen Gabe der Beginn einer Geschichte ist und dessen Verweigerung deren Ende."

Wie gut, dass Alexandre Lacroix mit diesem Buch das Küssen aus der Operetten-Kiste holt. Übrigens, Frankreich hält den weltweiten Kussrekord: Paare tauschen dort im Schnitt täglich sieben Küsse aus.

Besprochen von Dina Netz

Alexandre Lacroix: Kleiner Versuch über das Küssen
Aus dem Französischen von Till Bardoux
Matthes & Seitz, Berlin 2013
176 Seiten, 16,90 Euro
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