"Barfuß auf Nacktschnecken"

Gesehen von Hannelore Heider · 04.05.2011
Mit "Inglourious Basterds" hat Diane Kruger bewiesen, dass sie mehr kann, als nur attraktiv zu sein. Dennoch hatte sie bisher zu wenig Gelegenheit, auch in charakterstarken Rollen zu überzeugen. Im neuen Film von Fabienne Berthaud gelingt ihr das auf eindrucksvolle Weise.
Als Schöpferin der Romanvorlage, Mitautorin für das Filmdrehbuch, als Regisseurin und Kamerafrau hat Fabienne Berthaud das Filmprojekt sicher zu einer Herzensangelegenheit erkoren und das sieht man dem Film im Positiven wie im Negativen auch an. Nicht nur der Titel ist extravagant, sondern auch seine Heldin.

Lily (Ludivine Sagnier) ist das, was man in vergangenen Zeiten einen Wildfang genannt hat, ein großes Kind im Körper einer erwachsenen Frau, voller Kreativität und Verspieltheit, unfähig zu Kompromissen und konventionellem Verhalten. Damit ist diese naive Wilde eine Herausforderung und oft genug auch eine Zumutung für alle um sie herum.

Nach dem plötzlichen Tod der Mutter fällt ihrer Schwester Clara (Diane Kruger) die Aufgabe zu, für Lily zu sorgen. Das gelingt natürlich nicht in deren streng reglementiertem Pariser Haushalt, wo ihr Ehemann Pierre (Denis Ménochet) und sie - als seine Anwaltsgehilfin - leben. Nach einem Irrlauf von Lily durch Paris, entschließt sich Clara zu ihrer Schwester aufs Dorf zu ziehen. Allmählich lernt sie nicht nur, Lilys Fantasiewelt zu verstehen, sondern auch ihr eigenes Leben infrage zu stellen. Liebe, Freiheit, Verantwortung und Sexualität bekommen in Lilys Nähe eine andere Farbe und eine andere Gewichtung.

Diese so poetische wie handfeste Familiengeschichte wird gradlinig mit schönen Szenen, die die Seelenlandschaften vor allem der beiden Heldinnen spiegeln, erzählt. Das Problem ist die Ausmalung der Welt und des Charakters von Lily. Für sie sind Tiere, Bäume und Pflanzen ebenso wie die Menschen nur Bauklötzer auf einem Spielplatz. Verschwenderisch benutzt sie alles, um ihren mit unschuldiger Naivität motivierten Narzissmus auszuleben. Das lässt den Zuschauer immer wieder an ihrer geistigen Gesundheit zweifeln, was sicher nicht die Absicht der Regisseurin war. Sie wird mit zu wenig Distanz zu einem Sehnsuchtsbild stilisiert und Ludivine Sagnier stellt sich dem ganz zur Verfügung. Interessanter wird vor diesem Hintergrund die glaubwürdig erzählte Verwandlung ihrer Schwester Clara.

Wer es bis jetzt noch nicht wusste – Diane Kruger ist eine ernstzunehmende reife Schauspielerin, die in diesem exaltiert wirkenden Film mit Ernsthaftigkeit, Sensibilität und Zurückhaltung überzeugt.

Frankreich 2010, Regie: Fabienne Berthaud, Darsteller: Ludivine Sagnier, Diane Kruger, Denis Ménochet u. a., FSK: ab 12 Jahren, Länge: 103 Minuten

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