Barbara Vinken: Deutschland braucht mehr "Rabenmütter"

Barbara Vinken im Gespräch mit Susanne Führer · 07.09.2010
In Frankreich ginge man davon aus, dass die künstliche Babynahrung genauso wertvoll sei wie die Muttermilch, sagt die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken. Dies führe dazu, dass Frauen früher in den Beruf zurückkehren - und dennoch mehr Kinder bekämen, meint die Literaturwissenschaftlerin vor dem Hintergrund der Debatte um das neue Buch von Elisabeth Badinter "Der Konflikt: Die Frau und die Mutter".
Susanne Führer: Die französische Philosophin Elisabeth Badinter ist sehr beunruhigt, denn die Gleichberechtigung von Frau und Mann, für die sie – sie ist Jahrgang 1944 –, für die sie jahrzehntelang gekämpft hat, die sei in großer Gefahr. Die Wirtschaftskrise und das Ideal der guten, der perfekten Mutter sorgen nämlich dafür, meint sie, dass die Frauen wieder zu Hause bleiben und sich um Kinder und Haushalt kümmern, während die Männer das Geld verdienen. Alles wie früher also. Darüber, dagegen hat Elisabeth Badinter ein Buch geschrieben, es heißt "Der Konflikt: Die Frau und die Mutter". In Frankreich ist das ein heiß diskutierter Bestseller, der inzwischen auch auf Deutsch vorliegt. Am Telefon ist jetzt die Feministin und Publizistin Barbara Vinken, Professorin für Literaturwissenschaft an der Uni München. Guten Morgen!

Barbara Vinken: Guten Morgen!

Führer: Die französische Feministin Badinter beklagt, dass Frauen zu Hause bei den Kindern bleiben unter Berufung auf die Natur. Das Stillen ist für sie da ein Paradebeispiel. Aber ist es nicht so, Frau Vinken, dass es doch wohl unbestritten ist, dass das die natürlichste und gesündeste Ernährung für das Baby ist?

Vinken: Die natürlichste und gesündeste ... Ich glaube, unbestritten ist das nicht, ich habe da aber nicht die letzten medizinischen Untersuchungen drüber gelesen. Badinter behandelt das Stillen vor allen Dingen als ein ideologisches Gebot, das die Frauen, eben wie man ja weiß, an die Kinder bindet und sie damit für andere, also für Berufstätigkeit oder zur Ehefrau, eben ungeeignet macht. Da muss man sehen, dass es inzwischen in Frankreich ganz anders ist als in Deutschland. In Frankreich empfehlen die klassischen Erziehungsbücher, das mit dem Ehemann oder mit dem Partner abzusprechen, ob man stillen soll. Das heißt sozusagen das erotische Problem wird dabei sehr stark in den Vordergrund gestellt. Man geht davon aus, dass die künstliche Kinderernährung genau so wertvoll ist wie die natürliche, und die Frauen werden nicht wie in Deutschland dazu gedrängt oder dazu angehalten oder dazu gebracht, zu stillen. Das heißt, sie haben empirisch eine ganz andere Situation. Und Badinter befürchtet, dass sich das jetzt eben ändert.

Führer: Genau, im Namen der Natur, der Natürlichkeit. Deswegen noch mal zurück zu meiner Frage: Man könnte doch nun mal, wenn man sich mal anguckt, wie so ein Kind entsteht, und Schwangerschaft, Geburt und Stillen ist doch dann wohl der natürliche Weg, oder?

Vinken: Ja klar, aber das haben die Frauen bis zum 19. Jahrhundert nie gemacht. Also selbst im 19. Jahrhundert sind die bürgerlichen Frauen noch von Ammen gestillt worden. Diese Kampagne dafür, dass die Mutter ihr Kind stillt, ist eine Kampagne, die erst im 19. Jahrhundert eingesetzt hat. Wenn Sie an etwa große Adlige denken, die haben ihre Kinder noch nicht mal gestillt, wenn die fast starben. Ja also es ... Mütter stillten ihre Kinder nicht, weil Mütter hatten erotische Interessen, sie hatten gesellschaftliche Pflichten und sie hatten was anderes zu tun.

Führer: ... und sie hatten Ammen ...

Vinken: ... und sie hatten natürlich Ammen. Und jetzt haben sie ... – Klar, sie hatten damals Ammen und jetzt haben sie natürlich Milch. Ja also diese ... Ich glaube, das Medizinische, sagt auch schon Rousseau. Also es ist überhaupt kein Unterschied zwischen der künstlich hergestellten Babymilch und der Muttermilch, und das ist sozusagen von vornherein als ideologisches Moment angelegt worden und nicht als eins der objektiven Gegebenheit der besseren Qualität irgendwelcher Milch.

Führer: Aus deutscher Warte würde man vielleicht sagen, Frau Vinken, dass Sie und Frau Badinter von einer quasi folgenlosen Mutterschaft träumen?

Vinken: Also ich würde nicht folgenlos sagen, aber ich würde schon sagen ... Also sagen wir mal so, in Frankreich ist die Sache in gewisser Weise besser gelaufen, weil die Frauen sehr viel mehr Kinder kriegen – Sie wissen ja, Frankreich liegt bei zwei Kindern pro Frau im Schnitt, Deutschland bei 1,3 – und sie gleichzeitig sehr viel bessere Karrieren machen, also ihr Berufsbild dem der Männer sehr viel ähnlicher ist, als das in Deutschland der Fall ist. Insofern kann man sagen, wenn Sie sagen folgenlose Mutterschaft – ein sehr nettes Bild –, führt das immerhin dazu, dass die Leute mehr Kinder kriegen und das, ja also das ist ja vielleicht ganz positiv, wenn man sich die deutschen Statistiken anguckt.

Führer: Na ja gut, aber eine deutsche Mutter würde natürlich sagen, also wenn ich jetzt – also die ideale deutsche Mutter, ja –, also wenn ich nun ein Kind bekomme, dann ändert sich mein Leben eben radikal, darauf muss ich mich eben einstellen ...

Vinken: ... ja eben, und deswegen ... So ist es, ja, deswegen ...

Führer: ... und zwar, wenn ich mal jetzt einen Satz einfügen darf, worüber wir noch gar nicht gesprochen haben, was ganz erstaunlich ist: zum Wohle des Kindes.

Vinken: Sie haben völlig recht. Und weil wir selbstverständlich davon ausgehen, dass wir das alles tun müssen – aber selbstverständlich stillen, selbstverständlich zu Hause bleiben, selbstverständlich und so weiter, ja –, deswegen entscheiden sich bei uns ja 40 Prozent der Akademikerinnen – das ist ein sehr hoher Prozentsatz – selbstverständlich gegen das Kind. Und in so einer Situation muss man eben überlegen, was man will. Und man kann ja auch jetzt mal hier empirisch argumentieren, weil man kann ja mal sagen, gucken Sie sich Frankreich an: Die Kinder sind nicht bindungsgestört, die Kinder sind nicht lernbehindert, das ist keine kriminellere Gesellschaft als unsere, die Leute sind auch nicht wirklich unglücklich. Also scheint das Modell folgenloser Mutterschaft ja irgendwie in der Praxis so ganz gut zu funktionieren.

Führer: Na, ich hatte so die Fantasie, es gibt ja immer wieder die Statistiken, dass die Franzosen Weltmeister sind im Verbrauch von Psychopharmaka, sprich von Antidepressiva und Schlafmitteln. Vielleicht hat das doch damit zu tun, dass die armen kleinen Französinnen und Franzosen nie gestillt werden?

Vinken: Das finde ich jetzt eine gewagte These. Ich glaube, die Franzosen haben ein anderes Verhältnis zu Medizin. Die sind da sehr viel, würde ich sagen, zugreifender, zupackender.

Führer: Ja und in jedem Fall, auf jeden Fall zum technischen Fortschritt. Also das finde ich merkt man auch an diesem Buch: Das Fläschchen ist doch auch prima und inzwischen gibt es die künstliche Befruchtung, man kann fantasieren, wann gibt es die künstliche Schwangerschaft, damit die Frau keine Einbuße erleidet dadurch, dass sie ein Kind in die Welt setzt. Das finden Sie jetzt absurd?

Vinken: Nein, also Sie haben, also das ist, was Sie da sagen, ist völlig richtig. Ja also es ist völlig richtig, dass das französische Verhältnis zur Technik wesentlich positiver ist als das deutsche Verhältnis zur Technik, und das Verhältnis zur Natur längst nicht so stark besetzt ist wie das deutsche Verhältnis zur Natur. Aber ich finde, das Hauptargument von der Badinter ist wirklich ein bedenkenswertes: In einer Gesellschaft, die lustorientiert ist – was man auch für unsere Gesellschaften sagen kann –, gleichzeitig aber das Mutterideal, von der Mutter so viel gefordert wird, dass sie dieser Lustbesetzung oder man kann auch sagen, der Pflicht, die daran gebunden ist, glaubt, nicht nachgehen zu können, hat das für den Fortbestand von Gesellschaft ein ganz, ein ... Ja, es führt dazu, dass diese Gesellschaft nicht mehr fortbesteht. Und das ist ja praktisch in Deutschland der Fall. Und ich meine, das ist ... Ich finde das interessant, dass wir so wenig daran interessiert sind – das kommt wahrscheinlich durch die Nazi-Vergangenheit –, aber das wir so ein kleines Investment in Familie, Fortbestand von Kultur, ja also, ein Fortgehen der Gesellschaft haben. Es muss ja gar nicht um Steuern, Renten oder was weiß ich was gehen, sondern einfach um den Erhalt bestimmter gesellschaftlicher Strukturen. Und dass wir das in Deutschland eigentlich relativ unbedacht vielleicht auch preisgeben, um dieses sag ich jetzt mal Fetisches der Natur willen. Wobei man sagen kann, dass die ganze Schwangerschaftsverhütung ja sowieso auch eine Technik ist, wie man weiß. Und der gegenüber sind wir ja sehr positiv eingestellt.

Führer: Professor Barbara Vinken im Deutschlandradio Kultur. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Frau Vinken, dann könnte man sagen, wir brauchen in Deutschland eigentlich mehr Rabenmütter, das Ideal der Rabenmutter, wenn wir mehr Kinder haben wollen?

Vinken: Unbedingt. Also wir, ja, wir müssen unbedingt dieses Mutterideal von den Pflichten entlassen und wir müssen es möglich machen, die Lust an dem Kind sozusagen mit einem normalen erwachsenen frauenerotischen Berufsleben vereinbar zu machen. Und wenn das nicht so wird, dann werden sich bei uns selbstverständlich, wie das jetzt schon der Fall ist, immer mehr Leute gegen Kinder entscheiden. Man kann das ja auch gut finden, aber diese Konsequenz muss man verstehen, glaube ich.

Führer: Sie haben gerade von dieser lustbetonten Gesellschaft gesprochen, also früher nannte man so was Selbstverwirklichung, Psychoanalytiker sprechen von Narzissmus. – Mir scheint es auch eher so zu sein, dass gar nicht so sehr wirklich das Ideal vielleicht der Natur so im Raum steht, sondern, und die perfekte Mutter, sondern inzwischen verschiebt sich das hin auf das perfekte Kind, weil das Kind wird sozusagen zum Projekt der Mutter zur Selbstverwirklichung. Ist das nicht eher eine Gefahr?

Vinken: Doch, darin sehe ich eigentlich auch die Hauptgefahr. Man hat ja vom 20. Jahrhundert als dem Jahrhundert des Kindes gesprochen, der Erfindung des Kindes, und ich würde auch sagen, in Deutschland sind wir mittlerweile, haben wir das eigentlich noch getoppt, dass nämlich das Kind und nichts anderes mehr das Projekt für die Mutter, für viele Mütter geworden ist. Und ich glaube ehrlich gesagt, dass kein Kind das tragen kann und dass auch kein Kind das tragen sollte. Insofern finde ich auch, dass, wenn man jetzt von der Perspektive des Kindes ausgeht, dieses Mutterideal eigentlich absolut negative Folgen hat.

Führer: Sie meinen, das ist eine Folge des Mutterideals?

Vinken: Ja, ganz klar. Also ich, also man kann das ja ganz genau sehen, dass die anderen Möglichkeiten für Frauen mit der Reformation gekappt werden, also heilige Äbtissin oder so was zu werden oder auch Gelehrte eventuell, dass sie dann zur Ehefrau und Mutter wird, und die wird dann im 19. Jahrhundert durch die Pädagogik mit einem reformatorischen Moment ausgestattet. Also das ist das, was die Gesellschaft verbessern soll, die gute Mutter. Und da dieses gesellschaftsreformatorische Moment in dem Mutterideal jetzt ja so gut wie weggebrochen ist oder ganz stark zurückgedrängt worden ist, glaube ich, dass das jetzt auf dieses, dass das Kind das jetzt ertragen muss und dass das Kind damit zu diesem stark belasteten oder stark befrachteten Projekt wird.

Führer: Das entscheidend Neue ist ja, um nicht so ganz so weit zurückzugehen bis zur Reformation, ist ja, dass man sich heute für ein Kind entscheidet.

Vinken: Genau, klar. Ich meine, damit ist die Situation natürlich grundlegend verschieden, ich meine davon geht die Badinter ja auch aus. Es ist nicht mehr so, wie Adenauer noch gesagt hat, dass man die Kinder einfach kriegt. Das heißt ein Kind ist eine Entscheidung, eine Willensentscheidung, ein Projekt und so weiter. Und damit wird auch der Anspruch an das, was man damit will, ja oder was man ... Das ganze Verhältnis zum Kind hat sich damit vollkommen verändert. Und wenn die Norm nicht mehr wie in Frankreich ist, dass man Kinder bekommt – das ist jetzt natürlich keine natürliche Gegebenheit mehr, sondern eine gesellschaftliche Norm, die in Frankreich ganz stark ist, die Französin bekommt zwei oder drei Kinder …

Führer: ... ja, vor allen Dingen bekommen viel mehr Französinnen Kinder. Also in Deutschland sind es viele Frauen, die gar keine Kinder kriegen ...

Vinken: ... genau, Kinderlosigkeit ist in Frankreich keine, keine ...

Führer: ... Option ...

Vinken: ... keine Option, genau. Es ist in Deutschland sehr wohl eine Option, mittlerweile sogar in vielen Schichten eigentlich die dominierende Option. Und damit wird auch noch mal das Verhältnis zu dem, also das, was das Kind dann in einer solchen Gesellschaft ist, ist noch mal was ganz anderes.

Führer: Frau Vinken, ich danke Ihnen für das Gespräch. Es war nun doch ein deutsches Gespräch, weil wir doch die Hälfte über die Kinder gesprochen haben, was ...

Vinken: ... ja ...

Führer: ... eben die Französin gar nicht getan hat. Barbara Vinken war das, die Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität München und Autorin des Buches "Die deutsche Mutter: Der lange Schatten eines Mythos". Danke noch mal, tschüss!
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