Balbina singt über den Goldfisch

Eintauchen und vergessen

Die Musikerin Balbina im Studio am Mikrofon.
Die Sängerin Balbina © Jan-Martin Altgeld
Von Florian Werner · 30.04.2015
Keine deutschsprachige Sängerin wird derzeit so einstimmig gepriesen wie Balbina Jagielska − oder einfach Balbina. Dabei geht es in ihren Texten zumeist um Nichtigkeiten, um Leere, Langeweile und aus der Zeit gefallene Haustiere - wie den Goldfisch.
"Merk' ich noch was, merk ich mir noch was?
Wie war die Frage noch mal? Hm, ich streng mich an,
Ich runzel’ die Stirn, doch dahinter ist
Das Wichtigste in grauen Zellen eingesperrt"
Im vorderen Teil der Großhirnrinde, in der so genannten grauen Substanz, sind unsere Erinnerungen gespeichert. Und mit ein wenig Glück können wir sie dort auch wieder abrufen. Nicht so die Sängerin Balbina: Bei ihr fungieren die "Zellen" nicht als Speicher, sondern als Gefängnis − von wenigen Ausnahmen abgesehen:
"Augenblick, jetzt erinnere ich mich daran
Das ich entsetzlich vergesslich bin
Wie beim Goldfisch ist mein Gedächtnis nicht meine Stärke,
Ich kann mir gar nichts merken"
Erinnert an Sokrates
Ich erinnere mich, dass ich mich an nichts erinnere. Das erinnert an das berühmte, Sokrates zugeschriebene Paradox: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Wenn die Aussage hier allerdings weniger philosophisch als possierlich daherkommt, dann, weil die Sängerin sich im selben Atemzug mit dem glubschäugigsten und mutmaßlich dümmsten aller Nachkriegshaustiere assoziiert.
"Goldfisch, du und ich
Wir haben was gemeinsam, wir beide sind einfach vergesslich…"
Soviel zu den inneren Werten – äußerlich stellt der Zierfisch die Sängerin sogar noch in den Schatten:
"Nur ich glänz' nicht so schön wie du
Nur ich glänz' nicht so schön wie du"
Die meisten denkenden Menschen würden angesichts dieser Sachlage verzweifeln – aber nicht Balbina: Sie sehnt sich geradezu nach Selbstverlust, nach einer Auslöschung ihres Ichs. Der Goldfisch mit seinem notorisch kurzen Gedächtnis dient ihr dabei als leuchtendes, glänzendes Vorbild.
"Denn wir erinnern uns nicht gern
Denn wir erinnern uns nicht gern"
"Der Mensch fragt wohl einmal das Thier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an?", heißt es bei Friedrich Nietzsche. "Das Thier will auch antworten und sagen: das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergass es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich darob verwunderte." Balbina scheint das Tier dennoch verstanden zu haben. Der Weg zum Glück führt über den Verlust der Gedächtniskraft. Nur wer vergesslich ist wie ein Fisch, lebt im Nirwana der absoluten Gegenwart.
"Ich hör dem Meer zu, ich hör nicht mehr zu
Was, was, was, was, was, was, was, was?
Wasser, Wasser…"
Konsequenterweise vergisst die Sängerin am Ende des Songs denn auch ihre Sprache, taucht ein in eine vorsymbolische Ordnung. Die Bedeutungen lösen sich auf, und auch der Goldfisch ist mit einem Mal verschwunden. Falls es überhaupt einer war, und die vergessliche Balbina ihn nicht mit einer anderen Art verwechselt hat. Schließlich ist nicht alles Goldfisch, was glänzt − so sagt man doch. Oder?
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