Balance auf komplexer Ebene

09.11.2011
Der portugiesischstämmige Antonio Damasio ist Professor für Neurowissenschaften und Psychologie: Seine Bücher, darunter "Descartes’ Irrtum" und "Ich fühle, also bin ich" sind Bestseller und in über 30 Sprachen übersetzt. "In Selbst ist der Mensch" geht er der Frage nach, die grundlegend für den Menschen ist: Wer sind wir?
Wie macht das Gehirn den Geist? Wie bringt es Kreativität, Gefühle, Erinnerungen hervor? Gibt es evolutionäre Vorstufen menschlichen Bewusstseins?

Das sind die großen Fragen, die der amerikanische Hirnforscher Antonio Damasio in seinem neuen, leidenschaftlich geschriebenen Buch "Selbst ist der Mensch" untersucht. Dabei legt er sich in einer Jahrtausende alten, offenen Debatte auf eine materialistische Position fest: Geistige Phänomene gehen für ihn aus dem physiologischen Wechselspiel zwischen Sinnen, Gehirn und Körper hervor. Aber wie?

Hierzu präsentiert der Autor ein Feuerwerk an Ideen. So schwebt ihm eine komplexe mögliche Architektur des Gedächtnisses vor, bei der zwei "Gehirnräume" kooperieren. Der eine kartiert Erlebnisse und kann bewusst wahrnehmbare, geistige Bilder produzieren. Der andere speichert Formeln, nach denen die Gedächtniskarten "retroaktiviert" werden können,

Beide Gehirnräume stammen aus verschiedenen Epochen der Evolution, wie für den Autor neue und evolutionär alte Strukturen immer Hand in Hand arbeiten. Noch in Amöben findet er Vorstufen menschlicher Fähigkeiten. Wenn diese seit Urzeiten existierenden Einzeller sich Nährstoffen nähern und vor schädlichen Reizen fliehen, können sie, mangels Gehirn, zwar noch nicht Lust und Schmerz empfinden. Aber die Einzeller strebten doch nach einem ausgeglichenen inneren Milieu. Menschliche Kulturen sind für Damasio letztlich nichts anderes als ein solches Bemühungen um Balance auf komplexerer Ebene.

Rasante Kurzschlüsse von der Gehirn-Biologie hin zur menschlichen Kulturgeschichte zeugen von den enormen Ansprüchen der Hirnforschung. Und darin liegt auch das größte Problem des Buches. Antonio Damasio ist ein virtuoser Denker und Schreiber, der sich in sympathischer Weise für die Vielschichtigkeit des Lebens begeistert.

Doch allzu selbstbewusst operiert er mit schwammigen Begriffen. So wartet man auf eine tragfähige Definition von "Geist" - immerhin Thema des Buches - bis zur letzten Seite vergeblich. Andere zentrale Begriffe wie "Bild", "Gefühl", "Emotion" oder "Selbst" füllt er mit hypothetischen Ideen, denen jedes experimentelle Gegenüber fehlt. Auffällig selten nimmt er Bezug auf Experimente; blass geraten seine Vorschläge für künftige Forschungsprogramme. Der Grund dafür ist einfach: Antonio Damasios Entwürfe sind von wissenschaftlichen Fakten weit entfernt.

Visionäre Theorien über Gehirn und Geist, angereichert mit Wissen aus mehreren Jahrzehnten Hirnforschung - sicherlich liest sich das spannend. Möglicherweise wird das Buch deshalb mit dem "Corine"-Buchpreis 2011 ausgezeichnet. Doch hat der Kaiser wirklich Kleider an?

Mit seinem spekulativen Ansatz verlässt der Autor den Boden der Naturwissenschaft und begibt sich ins Hoheitsgebiet der Philosophie. Hier aber gelten, wie im Forschungslabor, Regeln der guten Praxis: Belastbare Begrifflichkeiten, stringentes Denken und ein Mindestbezug zur philosophischen und kulturwissenschaftlichen Tradition gehören dazu.

Besprochen von Susanne Billig

Antonio Damasio: "Selbst ist der Mensch - Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Siedler Verlag, München 2011
368 Seiten, 24,99 Euro
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