Bahr: "Künstler und Kirche begegnen sich oft mit einer gewissen Scheu"

Petra Bahr im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 17.09.2011
Künstler, die sich in kirchliche Kontexte begeben, müssten ihre künstlerische Freiheit behalten, sagt Petra Bahr, Kulturbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirchen. Da eine Verbindung zwischen religiöser und kultureller Freiheit bestehe, sollte die Kirche auch für die kulturellen Freiräume kämpfen.
Anne Françoise Weber: Seit Donnerstag und noch bis morgen findet in Berlin der erste Kirchenkulturkongress statt. In acht verschiedenen evangelischen Kirchen gab es in diesen Tagen Veranstaltungen zu Architektur, bildender Kunst, Film, zu Literatur, Musik, Theater, aber auch zur Gedenkkultur und Interkultur, also interkulturellem und interreligiösem Miteinander. Unter anderem wurde am Donnerstag ein zeitgenössisches Musiktheater über den Apostel Paulus uraufgeführt. Heute und morgen Abend wird es noch einmal zu sehen sein. Ich habe vor der Sendung mit der Kulturbeauftragten des Rates der evangelischen Kirchen in Deutschland, mit Petra Bahr gesprochen und sie zunächst gefragt, ob es bei dem von ihr organisierten Kongress darum geht, die Kultur in der Kirche vorzustellen oder darum, ins Gespräch zu kommen mit Kulturschaffenden, die vielleicht auch gar nicht so viel mit Kirche zu tun haben.

Petra Bahr: Es geht sicherlich um beides, es geht aber vor allem darum, einen Raum des Nachdenkens zu schaffen über die Frage, wie der Protestantismus denn in die Gegenwartskultur passt. Es wird viel geredet über das große Erbe und die kulturelle Prägekraft des Christentums. Für die einen verschwindet sie, für die anderen ist sie nach wie vor aktuell, aber was heißt das genau? Was sind eigentlich die Ausdrucksformen des Christentums heute, und wo kann man in der Literatur, im Film, in den Gegenwartskünsten möglicherweise auch die eigenen Themen unverhofft wiederentdecken.

Weber: Die eigenen Themen des Christentums und spezifisch des Protestantismus? Ist das was ganz besonders protestantisches, sich mit der Kultur zu befassen?

Bahr: Das glaube ich nicht, aber ich glaube, dass es eine protestantische Haltung zur Kultur gibt, die sehr viel stärker zum Beispiel die Frage sich anguckt, wie bestimmte große theologische Inhalte durch einen einzigen Künstler, einen Literaten, eine Schauspielerin, wie auch immer inszeniert werden und weniger darüber wie das Christentum als solches sich jetzt institutionell darstellt. Also, diese Würdigung der Biografie und des Individuums ist ja etwas, was zu Künstlern und Künstlerinnen ganz gut passt.

Weber: Dietrich Bonhoeffer hat gesagt, und das ist auch das Motto Ihres Kongresses: "Kultur ist der Spielraum der Freiheit." Sind die Kirchen auch darauf angewiesen, dass es in einer Gesellschaft diesen Spielraum gibt, um selbst Spielraum zu haben?

Bahr: In der Tat sind sie das, und ich glaube, es ist wichtig, daran zu erinnern, dass es in unserer Gesellschaft nach wie vor leicht ist für die Kirchen, sich zur Öffentlichkeit, zu gesellschaftlichen Fragen, eben aber auch zu kulturellen Herausforderungen zu verhalten. Und ich glaube, das ist etwas, was man überhaupt nicht für selbstverständlich erachten sollte. Außerdem gibt es ja so eine geheime Verbindung zwischen Religionsfreiheit und Kunstfreiheit. Das sieht man in totalitären Regimen, da werden nämlich immer die Künstler, die Journalisten und die religiösen Minderheiten verfolgt. Das muss etwas miteinander zu tun haben. Deswegen glaube ich, dass es der Kirche gut zu Gesicht steht, für diese Freiräume, auch für die kulturellen Freiräume zu kämpfen und nicht nur da, wo es ihre eigenen Freiräume betrifft.

Weber: Nun braucht die Kirche Freiräume, eröffnet vielleicht auch Freiräume, andererseits setzt sie auch Grenzen. Kirche und Religion hat immer etwas mit Abgrenzung von anderen zu tun, auch damit zu tun, wir haben die Wahrheit. Wie passt das zusammen?

Bahr: Ich glaube, das Entscheidende ist, dass Kirchen geprägte Räume sind, und Künstler wissen das genau. Wenn Künstler sich auf Kirchräume einlassen, haben sie es durchaus schwer. Manchmal wissen sie es vielleicht mehr als die Christinnen und Christen, die da tagaus, tagein zuhause sind. Es geht, glaube ich, weniger um Grenzen, sondern um die Frage: Wofür nutze ich eigentlich meine Freiheit? Und die Künste können das freie Spiel der Zeichen proben und doch irgendwie auf das unverfügbare verweisen. Für die Christen hat das Unverfügbare einen Namen, es zeigt sich in Jesus Christus. Das ist eine Begrenzung – gleichzeitig ist da natürlich die Frage: Ja, was heißt das denn eigentlich? Und was heißt das für uns heute? Und da geht es dann wiederum um die Freiheit, das auch in den Alltag umzusetzen. Man könnte auch sagen, so kulturell zu deuten, dass Menschen den Eindruck haben: stimmt! Diese christliche Botschaft hat was mit meinem Leben zu tun.

Weber: Aber haben Künstlerinnen und Künstler dann nicht den berechtigten Verdacht, auch instrumentalisiert zu werden, dass eben ihr Unverfügbares plötzlich das christliche unverfügbare wird, und dass ihre Kunst plötzlich im Grunde nur zum Gotteslob dient?

Bahr: Dieses traurige Verhältnis der vielleicht sogar wechselseitigen Instrumentalisierung ist oft beklagt. Ich glaube aber, dass es mittlerweile eher so ist, dass Künstler und Kirche sich mit so einer gewissen Scheu begegnen, weil sie häufig gar keine Erfahrung mehr miteinander haben. Es ist überhaupt gar keine Frage, dass Künstler und Künstlerinnen, die sich in kirchliche Kontexte begeben, ihre künstlerische Freiheit behalten müssen, und zwar schon deswegen, weil die Menschen in der Kirche etwas davon haben, wenn ihnen das Ureigenste als etwas Fremdes, als etwas Neues, vielleicht auch als was ganz aufregendes entgegenkommt. Deswegen ist die Freiheit der Aneignung durch die Künste etwas, was Protestantinnen und Protestanten ganz wichtig sein muss. Es geht aber auch darum, dass wir in der Kirche da, wo die Künste sogar eine Funktion zum Beispiel im Gottesdienst haben, uns fragen müssen: Ja, was sind denn die Ausdrucksformen von heute? Wenn die Aufführungen der Matthäus-Passion überall im Lande laufen, sind die Kirchen gerammelt voll, aber die Frage wäre ja: Was wäre heute eine Matthäus-Passion? Wie müsste die klingen, was wären es für Worte, die den Menschen so ans Herz gehen, dass es sie in Bewegung versetzt. Und das ist sicher nicht nur der Gospel, oder dass es in den Kirchen mal richtig rockt, das ist auch toll, aber ich glaube, es braucht auch avancierte Versuche bis in die anspruchsvollen Gegenwartskünste hinein, die Gehalte des Christentums neu auf die Probe zu stellen.

Weber: Aber erreichen sie damit nicht nur eine ganz kleine Minderheit? Und sind die Kirchen nicht deswegen gerammelt voll bei der Matthäus-Passion, weil das eine Art Heimat ist? Das ist das Altvertraute, und moderne Kunst, sei sie nun bildend oder musikalisch, geht oft an Grenzen, auf die Leute vielleicht in der Kirche gar keine Lust haben, weil sie in die Kirche kommen, um Tradition zu finden, um Altbekanntes zu finden.

Bahr: Es stimmt, dass die Kirche ein Ort von Heimat und Geborgenheit ist, aber das Evangelium ist es ja nun definitiv nicht. Das hat ja durchaus auch eine Sprengkraft und soll unser Leben verändern. Man könnte sogar sagen, es ist eigentlich ein Skandal, so hat jedenfalls der Apostel Paulus das mal genannt. Deswegen brauchen diese Kirchen diesen Geruch von Geborgenheit, sie brauchen aber auch das Andere. Die heilsame Verstörung, die uns ins Nachdenken bringt. Und es ist übrigens ein Gerücht, dass Künstler immer anstrengend sein müssen, und dass man bei denen keinen Spaß hat. Es muss nicht immer nur das Altvertraute sein, in dem man sich geborgen fühlt. Im Übrigen würden wir für unseren Alltag auch nicht behaupten, dass wir nur die Bücher lesen, die wir schon zwölfmal gelesen haben.

Weber: Aber wir lesen vielleicht auch nicht alle James Joyce oder richtig schwer zu verdauende Literatur.

Bahr: Aber das muss man ja auch nicht, denn wer sagt denn, dass Kunst schwer zu verdauen ist? Es gibt eine geheime Leidenschaft von Pfarrern und Pfarrerinnen für Krimis zum Beispiel. Das ist überhaupt kein Geheimnis, und es gibt gute Gründe dafür, dass das Thema Schuld der Umgang mit Versagen, auch mit Selbstzerstörung und Aggression im Krimi oder auch im "Tatort" auf ganz großartige Weise umgesetzt wird, und dass das Leute aus der Kirche interessiert.

Weber: Darf denn Kunst in der Kirche alles? Also, es gab ja durchaus heftige Auseinandersetzungen zum Beispiel über Abwandlungen der Darstellungen von Jesus am Kreuz. Gibt es da Grenzen?

Bahr: Kunst darf immer alles, und sie darf es dann gleichzeitig trotzdem nicht. Das ist in sakralen Räumen gar nicht so anders als im öffentlichen Raum, wo Kunst ja auch immer wieder zu Skandalen führt. Ich finde, die entscheidende Frage ist: Geht es um den Tabubruch, um des Tabubruchs willen, also um die Menschen mal so richtig zu ärgern, oder gibt es daran wirklich eine Aussage, also etwas Produktives, etwas, was Menschen wirklich neu ins Nachdenken bringt? Das ist für mich die entscheidende Frage, und nicht die entscheidende Frage, ob da die Farbe Grün zu dominant ist oder ob man dieses oder jenes mit dem Kreuz nicht darf.

Weber: Wissen Sie denn von dezidiert atheistischen Künstlern oder Künstlerinnen, die sagen, ja, ich lasse mich auf diese Herausforderung ein, ich arbeite mit der Kirche zusammen?

Bahr: Ich weiß jedenfalls von vielen Künstlern und Künstlerinnen, die durchaus sehr viel vorsichtiger wären, wenn es um eine Konfession geht oder ein religiöses Bekenntnis, und die gleichzeitig sagen: Diese christlichen Themen, dieses große Thema vom Ende des Menschenopfers, die Idee von einem Gott, der sich solidarisch erklärt mit den Leidenden, das ist eine so aufregende Idee, dass selbst, wenn ich es für mich selber gar nicht glauben kann, ich mich mit dieser Idee gerne auseinandersetzen möchte.

Weber: Und darüber freut sich die Kirche dann auch, weil das eben auch einen Anstoß geben kann für andere, die an dieser Auseinandersetzung interessiert sind.

Bahr: Manchmal freut es sie, manchmal ärgert es sie auch. Es hat das Verhältnis von Kunst und Kirche auch was mit Einflussangst zu tun, aber das möchte ich an dieser Stelle noch mal betonen: Wenn sich eine Regisseurin, ein Komponist, ein Librettist einer modernen Paulusfigur aneignet, dann ist es eben nicht der gleiche Paulus, der am Sonntag möglicherweise in der Predigt uns so altvertraut ist, sondern es ist der Paulus, den sich die Künstler angeeignet haben. Und deswegen ist er möglicherweise aber auch viel interessanter und viel aufregender als der, mit dem wir uns im Alltag so umgeben. Viel weniger harmlos, vielleicht auch viel aktueller.

Weber: Aber muss es nicht der gleiche Paulus sein, weil es eben der eine Paulus aus der Bibel ist?

Bahr: Es ist der Paulus der Überlieferung. Die Frage ist aber: Wie lesen wir denn diese Überlieferungen? Was bedeuten sie uns? Welche großen Themen haben wir vielleicht in der Kirche an Paulus ganz vergessen, die von jemand anders, der mit einem etwas unverkrampfteren Blick auf auch diese Texte guckt, plötzlich wiederentdeckt?

Weber: Heute Abend wird der Kulturpreis der EKD verliehen. Sie sind Vorsitzende der Jury. Interessanterweise heißt dieser Kulturpreis Grenzgänger. Wer geht da auf welchen Grenzen?

Bahr: Diejenigen, die diesen Preis kriegen, gehen alle auf einer Grenze – man könnte auch sagen, auf einer Schwelle zwischen der Kirche und einer kulturellen Einrichtung, also prämiert wurden Projekte, wo die Kirche kulturelle Verantwortung übernimmt in Partnerschaft mit anderen Institutionen. Mit Musik-Schulen, mit Tanzschulen, mit Galerien. Das kann man auch genau bei diesen Erstprämierten sehen, das ist ein Tanzprojekt für Kinder und Jugendliche, was es noch weit, bevor man in sozialen Brennpunkten zu tanzen pflegte, seit zehn Jahren schafft, Kinder und Jugendliche in Bewegung zu setzen, und es ist ein Projekt, was aus der Kirche heraus kam und kommt, und gleichzeitig mitten in einer ostwestfälischen Kleinstadt verortet ist, sodass die Übergänge zwischen Kirche und der Kultur fließend werden und Jugendliche sich auch über diese Schwelle in beide Richtungen bewegen.

Weber: Bei diesem Preis könnte ich mir sehr gut vorstellen, warum ihn die EKD verleiht. Beim dritten Preis fand ich das schwieriger, da geht es darum, dass zwei Künstler ein rotes Boot über die Alpen gezogen haben im Zusammenhang mit der Biennale in Venedig, um da ein Band zu symbolisieren zwischen einer Gemeinde in München und der evangelischen Gemeinde in Venedig. Warum wird so etwas ausgezeichnet?

Bahr: Es ist deswegen ausgezeichnet, weil dieses Boot ja nicht aus Spaß und Tollerei über die Alpen getragen wurde, sondern dieses rote Schiff ist ein Symbol für ganz vieles. Es wird über die Alpen getragen, um dann am Schluss im Kanal zu versinken. Es ist auch eine Metapher auf den Hochmut der Menschen, mit denen wir glauben, wir könnten alles und jedes bewältigen, um dann doch Schiffbruch zu erleiden da, wo wir vermeintlich angekommen sind. Ich finde das ein ganz großes Symbol auch für die gesellschaftliche Lage, in der wir uns gerade befinden. Wir reden die ganze Zeit über gigantischen Hochmut und die Angst vor dem Abgrund. Und da wird etwas vor Augen geführt mit einem ganz starken Bild, was wir an anderen Orten in der Politik, in der Gesellschaft die ganze Zeit diskutieren.

Weber: Kultur unterliegt Sparzwängen. Die evangelische Kirche auch. Kann sich die evangelische Kirche in Zeiten, in denen Pfarrstellen gekürzt werden, Landeskirchen zusammengelegt werden, und so weiter, kann sie sich es überhaupt leisten, Kultur zu fördern?

Bahr: Man könnte auch umgekehrt fragen: Kann sie sich es überhaupt leisten, auf Kultur zu verzichten? Denn dann wäre sie weltlos, dann wäre sie geistlos, und niemand würde etwas von ihr bemerken. Sie würde nicht mehr klingen, man könnte sie nicht mehr sehen.

Weber: Vielen Dank, Petra Bahr. Sie sind evangelische Pfarrerin und Kulturbeauftragte des Rates der EKD und verantwortlich für den ersten Kirchenkulturkongress, der zurzeit in Berlin stattfindet.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.