Bachtyar Ali: "Der letzte Granatapfel"

Durch das wilde Nachkriegskurdistan

Einschusslöcher an einem Haus
Spuren der Gewalt: Einschusslöcher an einem Haus im Südostend er Türkei © dpa-picture-alliance/Refik Tekin
Von Stefan Weidner · 04.06.2016
Der Roman des in Deutschland lebenden Autors Bachtyar Ali erzählt von einer alptraumhaften Suche eines Vaters nach seinem Sohn in Kurdistan. Die Geschichte ist ebenso grausam wie berührend und zutiefst menschlich.
Am Anfang des Romans steht eine Freilassung: Nach über 20 Jahren Einzelhaft in einem Wüstengefängnis wird der einstige Peshmerga-Kämpfer Muzaferi Subhdam entlassen. Er ist vom Gedanken besessen, seinen Sohn Saryasi wiederzufinden, den er im Säuglingsalter zurückließ. "Der letzte Granatapfel" erzählt die Geschichte dieser Suche, die zu einer albtraumhaften Odyssee durch das Nachkriegskurdistan wird, beginnend mit den Aufständen gegen Saddam Hussein, die dieser in den Achtzigerjahren auch unter Einsatz von Giftgas niederschlug, bis zum nicht minder blutigen innerkurdischen Bürgerkrieg nach der Autonomie in den Neunzigern.

Gewalt und Leid werden nicht ästhetisiert

Gewalt und Leid werden dabei anders als häufig in den orientalischen Literaturen der Gegenwart von Bachtyar Ali nie ästhetisiert, sie taugen nicht für Voyeurismus oder einen schnellen Kick. So bekommen Alis Figuren eine Würde, die auch die Erzählhaltung selbst auszeichnet und die ihren zutiefst humanen Ton begründet. Man wohnt staunend der Wiederverzauberung der Welt von ihrem tiefsten, elendsten Punkt aus bei, einer Manifestation der Menschlichkeit angesichts der größten Verzweiflung.
Muzaferi Subhdams Suche nach seinem Sohn wird zu einer nach seinen Söhnen. Denn es gibt drei gleichaltrige Kinder mit demselben Namen, und alle haben einst einen gläsernen Granatapfel in die Wiege gelegt bekommen. Ihre Geschichten sind exemplarisch für die verlorenen Söhne jener finstersten Epoche der kurdischen Geschichte.

Ein Robin Hood und ein entseelter Kindersoldat

Während der eine sich als Robin Hood der illegalen, von der Polizei schikanierten Straßenverkäufer Respekt verdient, erweist sich der zweite als entseelter Kindersoldat. Als Muzaferi sich mittels eines Kassettenrekorders mit diesem in Isolationshaft sitzenden zweiten Saryasi austauscht, gerät es zur Nebensache, wer sein wirklicher Sohn ist; Ziel der Suche ist nur noch Versöhnung. Und wenn Muzaferi schließlich von einem Jungen, der wegen seiner Verbrennungen "Schwarzer Stern" genannt wird, durch ein Heim für kriegsversehrte Kinder zum dritten und letzten der Saryasis geführt wird, ist diese ebenso grausame wie berührende Szene allein dadurch erträglich, dass der suchende Vater beim Durchschreiten dieses Horrorkabinetts nicht eine Sekunde an seiner Mission zweifelt.
Das Buch lebt von einer Mystik der innerweltlichen Existenz, deren Kern die Abhängigkeit der Menschen voneinander ist und nicht nur die Figuren prägt, sondern bis in den Stil hinein die ganze Art dieses Schreibens: "So, wie ein Teil unseres Lebens mit all den anderen Leben vermischt ist, so befindet sich auch ein Teil aller anderen Leben in unserem (…), ein Teil unseres Todes im Tod aller anderen." Nach der Lektüre dieses Romans darf man erwarten, noch viel von diesem kurdischen Autor zu hören und zu lesen.

Bachtyar Ali: Der letzte Granatapfel
Aus dem Sorani von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim Unionsverlag, Zürich 2016
348 Seiten, 22 Euro

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