"Babywatching" für Demenzkranke

Kinderglucksen gegen das Vergessen

Babywatching gegen die Demenz in Voerde
Heilsame Wirkung des kleinen Menschens: Demente profitieren vom Kontakt mit Kindern © Deutschlandradio Kultur / Thomas Kalus
Von Thomas Kalus · 05.12.2016
Mit Babys gegen das Vergessen: Jeden Montag ist im Seniorenheim in Voerde die neun Monate alte Luise zu Besuch. Sie soll die Damen dort an ihre eigenen Kinder erinnern - und so dabei helfen, dass ihnen die Gegenwart nicht entgleitet.
"Hallo Luise, wir winken Dir zu …"
Wenn Verena Scholten mit ihrer neun Monate alten Tochter Luise den Raum betritt, wird das Baby mit einem Willkommenslied begrüßt. Die sieben Damen im Alter zwischen 76 und 96 Jahren warten schon sehnsüchtig auf ihren Sonnenschein.
"Guten Morgen Luise!"
Luise strahlt mit großen Augen in die Runde. Sie fühlt sich offenbar sehr wohl im Mittelpunkt. In der nun folgenden halben Stunde schauen die Seniorinnen Luise beim spielen mit ihrer Mama zu. Das Baby sitzt auf einer himmelblauen Decke, spricht Herz und Seele der Damen an, die drumherum auf Stühlen Platz genommen haben. Luise spielt mit Förmchen, klatscht in die Hände zieht sich an den Stuhlbeinen hoch.
"Fein machst Du das."
"Luise macht Musik."
Seit einem guten halben Jahr ist Baby Luise jeden Montagmorgen zu Gast im Seniorenheim. Für die Damen, die alle leicht dement sind, ein wunderbarer Termin. Denn die Beobachtung des kleinen Mädchens weckt positive Gefühle. Und die Seniorinnen fragen auch bei der Mutter nach:
"Wie macht se sich denn beim Schwimmen jetzt, wird dat immer besser?"
"Ja, Schwimmkurs hat se jetzt fertig den ersten, aber Luise klettert auch schon auf so Matten auf'm Wasser und damit se keine Angst vorm Schwimmen hat, doch, das macht sie sehr gut."

Das Gedächtnis wird angeregt

Unterstützt wird die Gruppe von Gesprächsleiter Willi Schoelen. Der katholische Priester ist seit einigen Jahren im Ruhestand und hat große Freude an der Arbeit mit den älteren Damen. Zwischendurch streut Schoelen immer mal Fragen zu Luise ein:
"Stellen Sie schon mal fest, was jetzt anders geworden ist?"
"Ja, Haare, viel mehr Haare."
"Sie hat dicke Bäckchen gekriegt."
"Und so schön rosig, nicht."
Dadurch wird das Gedächtnis der dementen Frauen angeregt. Und das Beobachten von Luise setzt noch etwas anderes in Gang: Die Frauen erinnern sich an ihre eigene Kindheit und an ihr Elternsein.
"Das hat mein Sohn auch sehr früh gekonnt."
Dann versucht Pfarrer Schoelen, die Erinnerungen zu vertiefen:
"Das haben Sie früher mit Ihren Kindern alles nicht gemacht, ne, oder konnten es nicht machen."
"Doch, hab ich auch."
"Hatten wir keine Zeit dazu."
"Ich bin mit meinem Sohn immer schwimmen gegangen. Da haben die Leute sich beschwert: Wie kann man mit so einem kleinen Kind schwimmen gehen, ne. Aber meinem Sohn hat et gefallen, der wollte nie aus'm Wasser raus."
Pfarrer Schoelen macht bei der Sitzung immer wieder Notizen. Die Aufzeichnungen werden später ausgewertet und sollen nach der Pilotphase in Handlungsanweisungen für Gruppenleiter anderer Demenz-Projektes münden. Wer eine Babywatching-Gruppe leiten möchte, wird vorher einen Tag lang geschult.

Nachhaltige Wirkung des Babybeobachtens

Die Besuchszeit von Luise im Seniorenheim St. Christophorus in Voerde geht viel zu schnell zu Ende. Altenpflegerin Christel Hemkes ist bei allen Sitzungen dabei. Sie erzählt von der nachhaltigen Wirkung des Babybeobachtens bei den Damen.
"Sie strahlen, sie lachen alle, haben gute Laune, es ist schön. Nach dieser Stunde sie reden heute Nachmittag da drüber, morgen, übermorgen und freuen sich schon immer auf den nächsten Montag."
Wilma Simons ist 96 Jahre alt. Die dreifache Mutter fühlt sich durch die Treffen mit Baby Luise an ihre eigenen Kinder erinnert.
"Ja schon, also et fällt einem so manches ein, ne. Das haste auch mit deinen Kindern gemacht, ja. Die ganzen Bewegungen, die sie macht und wo die Kinder mit anfangen, was man denen zuerst beibringt, nicht."
"Ja siehste, backe, backe Kuchen macht se jetzt."
Allerdings erzielt das Babywatching nicht bei allen Senioren dieselbe Wirkung. Der Erfolg ist abhängig vom Stadium der Demenz. Je stärker die Krankheit, desto geringer die Wirkung.
Einige Damen beschäftigen sich so gut wie gar nicht mit dem Baby. Die meisten sind aber viel gesprächsfähiger und lebendiger geworden, findet Pfarrer Schoelen. Aber die Methode habe auch ihre Grenzen.
"Wir hatten anfangs zwei Mal eine Dame dabei, die ist dann nicht wiedergekommen. Und auf Nachfrage hin hat sie gesagt, sie hätte eine Totgeburt gehabt und das könnte sie jetzt nicht mehr verkraften. Ich meine, das kann natürlich auch passieren."

Der Kontakt zum Baby löst positive Gefühle aus

Der Kölner Demenz-Forscher Frank Jessen hält deshalb eine ständige Aufsicht beim Babywatching für sehr wichtig. Menschen, die zu impulshaften Handlungen, starker Unruhe oder Aggressivität neigen, sollten von vorne herein ausgeschlossen werden.
Für die, die in Voerde mitmachen, lohnt es sich auf jeden Fall, sagt Luises Mutter Verena Scholten.
"Ich finde das einerseits für Luise wichtig, damit sie auch den Kontakt zu fremden Menschen auch kennenlernt, also auch andere Umgebungen und Emotionen, und ich finde das für die älteren Damen sehr wichtig, weil man einfach merkt, wie viel denen das bedeutet und wie sie einfach aufblühen, wenn wir einmal die Woche hierhinkommen."
Ob die Babywatching-Methode bei Demenzpatienten die Krankheit verlangsamen kann, steht noch nicht fest. Es gebe noch keine Studien dazu, erklärt Psychotherapeut Frank Jessen von der Uniklinik Köln. Der Kontakt mit Kindern kann bei Demenzkranken aber auf jeden Fall positive Gefühle auslösen.
Luise wird die Voerdener Demenzgruppe begleiten, bis sie ein Jahr alt ist. Ihren ersten Geburtstag darf sie Ende Februar feiern. Außer Geschenken von den Damen wird sie bestimmt auch ein Abschiedslied bekommen. So, wie die Damen es bei jedem Treffen tun.
"Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, bleib nicht so lange fort. Denn ohne Dich ist's halb so schön, darauf hast Du mein Wort … das Wiedersehen mir Dir."
"Auf Wiedersehen Luise!"
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