Autobiographie von Wolf Schneider

"Euch arbeite ich immer noch über den Haufen"

Der Journalist und Moderator Wolf Schneider
Der Journalist und Moderator Wolf Schneider, bekannt als Sprachkritiker und Verfasser von Stillehrbüchern. © picture alliance / dpa / Georg Wendt
Von Martin Tschechne · 16.05.2015
Wolf Schneider – dieser Name ruft in fast jedem Journalisten Überdruss oder Hochachtung hervor. In jedem Fall Emotionen. In seiner Autobiographie "Hottentottenstottertrottel" beschreibt der 90-Jährige seinen Werdegang vom stotternden Jungen zum bekannten Sprachkritiker.
"Hottentotten-Stottertrottel-Mutter-Attentäter-Lattengitter-Wetterkotter-Beutelratten-Fangprämie": Für den zehnjährigen Wolf Schneider war es das Zauberwort, mit dem sich ihm 1935 die Macht der Sprache erschloss. Am Lagerfeuer der Hitlerjugend nämlich verschaffte sich Gehör, wer schon 14 war, die stärksten Sprüche kloppte und die tollsten Geschichten erzählte. Da wusste der Kleinste von allen offenbar nicht weiter: Wolf Schneider stotterte – aber befreite sich selbst aus der Sprachlosigkeit, indem er sich die zungenbrecherischsten Zungenbrecher einbimste, bis er sie schneller und glatter herausbrachte, als selbst die wortmächtigsten unter dem Pimpfen es konnten.
Knapp 80 Jahre später, Schauplatz jetzt: die Talkshow bei Markus Lanz; die Funktion des Lagerfeuers hat das Fernsehen übernommen – aber immer noch ist es Schneider, der geschliffener reden kann als alle anderen. Weil nämlich die Sprache das Thema seines Lebens geworden ist.
Schneider: "Ich habe 330 Journalisten hauptberuflich ausgebildet, 16 Jahre lang, und tausende von Journalisten, Öffentlichkeitsarbeitern, Werbetextern und andere Berufsschreiber im Lauf der letzten 30 Jahre – also vielleicht, wenn da die Leute überwiegend meinten, dass ich Recht hätte, etwas Gutes getan. Aber dass ich das nun in deutschen Zeitungen wiederfände oder in der deutschen Öffentlichkeit: Das ist weit übertrieben. Wenn ich einen Ehemaligen mit einem guten Text finde, denke ich mir, aha, Du hast vielleicht doch eine Spur breiter als Null durch das Leben gezogen."
Zu erkennen gibt sich einer, der wohl etwas vom Leben mitbekommen hat, vor allem aber weiß, dass ohne die Kraft der Rhetorik und ihre kleinen Glitzersteinchen, ohne die Wucht der Zahl, das scharfe Tempo der Argumentation, die gespielte Bescheidenheit: eine Spur breiter als Null – dass ohne die formende Kraft der Sprache das ganze Leben nur ein dahingelebter Augenblick wäre. In der Gewissheit dieser Erkenntnis, in der Gewissheit, dass Bedeutung nur als erfolgreich vermittelte Bedeutung Eindruck macht, schrieb Wolf Schneider nun also seine Memoiren. Ein Mann von 90 Jahren, der immer noch seine Freude darin findet, besser zu sein, fixer als irgendein Gegenüber.
Schneider: "Ich werde schneller fertig als er. Ich sage den jungen Leuten, die am Computer sitzen: Euch arbeite ich immer noch über den Haufen."
Ärger über schlampige Sprache
Dass er seine persönliche Geschichte als junger Soldat in den letzten Tagen des Krieges an den Anfang stellt, eigentlich nur, um daran zu belegen, dass sie eher unspektakulär abgelaufen ist – das ist eine kleine Enttäuschung für den Leser. Ein nur mäßig aufregender Einstieg: Schade, Schneider verletzt damit seine eigenen Regeln.
Schneider: "Der journalistische Maßstab lautet: Lädt dieser Satz mich ein, den nächsten Satz zu lesen? Antwort: nein."
Die Empfehlung also: einfach weiterblättern. Denn spannend wird es später. Die wilden Jahre im Verlag Axel Springer, wo Schneider erst Chefredakteur der "Welt" und dann urplötzlich kaltgestellt war. Das verunglückte Interview mit Angela Merkel, der starke Einstieg bei Edmund Stoiber. Oder die Geschichte mit den Hitler-Tagebüchern beim "Stern", die er als Leiter der hauseigenen Journalistenschule aus sicherer Distanz erlebte, aber in bester Kenntnis der Akteure – das sind Höhepunkte nicht nur einer persönlichen Biografie. Es sind Wendepunkte in der Geschichte eines Gewerbes, in dem viele sich heute fragen, wann und womit eigentlich der Abstieg begonnen hat. Wir waren besser damals, gibt Schneider zur Antwort. So ist er nun mal. Aber auch, wenn das nur ein Teil der Geschichte ist: Es ist genau der Teil, in dem es um die Berufsauffassung geht, um das, was jeder selbst zu verantworten hat. Wir, sagt Schneider – wir waren Journalisten.
Schneider: "Zwei Drittel von dem, was über Smartphones und Computer geht, ist ein Geschwätz, das früher der Verbreitung nicht für wert gehalten worden wäre."
Am Anfang steht immer der Ärger über schlampige Sprache. Über Ungenauigkeit, modische Leerformeln und die sprachlichen Nebelkerzen der Experten und Funktionäre. Mit Büchern wie "Wörter machen Leute" oder "Deutsch für Profis" hatte Schneider den Zusammenhang zwischen Bosheit, Dummheit und Satzbau schon bis ins Detail belegt, als Dativ und Genetiv noch beste Freunde waren. Und wenn Markus Lanz ihn fragt, was ihn denn so richtig auf die Palme bringe, dann antwortet Schneider: das Wort "Aktivitäten" – weil es nichts sagt und alles verschweigt.
Schneider/Lanz: "Man könnte stattdessen Aktionen sagen, dann hätte man Silben gespart (...), denn alle guten Wörter sind kurz: Glück, Lust, Herz, Qual..." / "Qual ist Ihr Lieblingswort, nicht?" / "Nein, nein..." / "Doch!" / "Ach so, Qualität kommt von Qual, habe ich meinen Journalistenschülern verkündet. Nein, das Bezeichnende ist: Die kurzen Wörter der deutschen Sprache sind die starken Wörter. Wir bestehen aus einsilbigen Wörtern: Hand und Fuß, Herz und Kopf (...). Und alle starken Gefühle – Qual, da kommt die Qual vor, Lust, Schmerz, Pein, Neid, Gier, Hass sind einsilbige Wörter. Das heißt: Die Einsilbigen sind das Größte, und wer ‚Aktivitäten' schreibt, ist ein Schwachkopf."
Qualität kommt von Qual
Na schön. Kein Wort also über Liebe, Mitgefühl und Zärtlichkeit. Zu viele Silben. Wer Recht behalten will, dem sei es gegönnt. Und das ist ja auch – jenseits aller Sprach-Nickeleien und weit darüber hinaus – eine Lehre, die jungen Journalisten in ihrem Beruf sehr nützlich sein kann. Schneider lebt ihnen diese Haltung vor: Wenn hier schon einer irrt – warum sollte ich es sein?
Das mit der Qual haben dennoch viele sich hinter die Ohren geschrieben: Qualität kommt von Qual. Schwer zu fassen für eine Kaste von handverlesenen Schülern, die es geschafft hatten, sich unter tausenden von Bewerbern einen Platz an der renommierten Schule zu erkämpfen. Kaum einer unter ihnen, der sich nicht für ein Genie gehalten hätte. Bis der Lehrer Schneider damit anfing, seine junge Elite zu quälen. Bis er sie spüren ließ, dass ein guter Satz mindestens drei Anläufe braucht. Und sechs bei einem Genie. Bis er ihnen klar gemacht hatte, dass sie bei aller Genialität erst mal ein Handwerk zu lernen hätten.
Ein Nachtrag noch. Wer sich die Hottentotten-Stottertrottel-Mutter-Attentäter-Lattengitter-Wetterkotter-Beutelratten-Fangprämie ins Gedächtnis ruft – dem könnte eine kleine Unebenheit auffallen: Was eigentlich soll ein "Wetterkotter" sein? Das Wort steht nicht im Duden; Schneider selbst gibt es unumwunden zu: Es ist eine Erfindung. Ein Trick, sprachliches Blendwerk, um vor den anderen besser dazustehen. Auch darin steckt eine Lehre für den Berufsalltag im Journalismus.
Und noch ein Nachtrag, ein letzter. Wer "Aktivitäten" schreibt, Plural also, für einen Begriff, der nur im Singular denkbar ist, da hat Schneider schon recht: Der ist wirklich ein Schwachkopf.

Wolf Schneider: "Hottentottenstottertrottel. Mein langes, wunderliches Leben"
Rowohlt Verlag, Hamburg 2015
350 Seiten, 19,95 Euro

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