Autobiografischer Roman

Der Verfall einer Familie

Der Schatten einer Familie, die sich an der Hand hält.
Nix mit heiler Familienwelt: Tikkanens ist eine gruselige Autobiografie. © picture alliance / dpa / M. C. Hurek
Von Peter Urban-Halle · 10.01.2015
Der Finnlandschwede Henrik Tikkanen, auch ein gefürchteter Karikaturist, schrieb mit "Brändövägen 8" einen ebenso böse sarkastischen wie mitreißenden autobiografischen Roman.
"Dies ist eine gruselige Geschichte über vorzeitigen Tod, Unheil, Unzucht und Schnaps." Henrik Tikkanens autobiografischer Roman, dessen Titel die Adresse seines Elternhauses ist, fängt an wie so manche klassische Gruselgeschichte: mit Warnung und Verlockung. Wir Leser werden vor dem kommenden Schrecken gewarnt, und werden gleichzeitig, weil wir ja alle Voyeure sind, durch die Ankündigung dieses Schreckens angelockt.
Aber "Brändövägen 8" ist keine Gruselgeschichte, es ist – vielleicht mit der einen oder anderen Abwandlung – die Wahrheit. Und das, obwohl er seinen Roman schon auf den ersten Seiten "als glasklare Lüge und als erdichtet und erfunden" bezeichnet. Nun könnte man vielleicht meinen, er wolle damit diejenigen besänftigen, die in seinem Buch eine grobe Verletzung der ungeschriebenen Regeln bürgerlicher Memoirentradition sehen – was es ja tatsächlich ist. Aber Tikkanens Geständnis gehört einerseits zu seiner sarkastischen Vorgehensweise, andererseits möchte er damit unterstreichen, wie radikal subjektiv sein Text ist.
Damit reiht er sich ein in die Riege der angry young men Finnlands, obwohl der 1924 Geborene ja nicht mehr ganz so jung war wie seine schreibenden Kollegen. Aber wie Michel Ekman in dem eben auf Deutsch erschienenen Buch "Finnlands schwedische Literatur" betont, blieb er "zornig und vital", und vor allem war er schon in seinem Debütroman "Die Helden sind tot" von 1961 den jüngeren Autoren "stilistisch haushoch überlegen".
Ein Urteil, das von dem vorliegenden Buch nur bestätigt wird. In diesem finnlandschwedischen "Blick zurück im Zorn", der den Verfall einer Familie konstatiert, wechselt er gekonnt und mitreißend zwischen polemischen Attacken, persönlichen Spitzen, ironischen Passagen, witzig-karikierenden Schilderungen und erbarmungslosen Bloßstellungen – die übrigens nicht nur die anderen betreffen. Seine aphoristischen Zuspitzungen – sicher geschult an seinen Karikaturen und Zeichnungen – haben, wenn sie mild sind, einen schönen sarkastischen Witz, aber wenn sie böse sind (was meistens der Fall ist), sind sie nicht mehr schön, sondern erschreckend sarkastisch.
Tikkanen kommt aus einer privilegierten Familie. Der finnische Name stammt vom Urgroßvater, der seinerzeit eine Frau aus der schwedischen Oberschicht Finnlands heiraten konnte, eine Enkelin des Erzbischofs. Aber ihren Reichtum, ihren Einfluss, ihre Vornehmheit findet er unerträglich. Henrik liebt seine Eltern, wie jedes Kind seine Eltern liebt, aber er lässt kein gutes Haar an ihnen: Die Mutter beschreibt er als geizig, egoistisch, launisch, den Vater, der dreimal verheiratet war, als gewalttätigen, manisch-depressiven Tyrannen; der Vater nennt sich selbst recht ehrlich einen "Freund des Teufels". Alkoholiker waren sie beide, der Alkoholtod des Vaters ist deprimierend (und könnte Karl Ove Knausgårds "Sterben", wo es um das gleiche Thema geht, beeinflusst haben).
Dass Henrik Tikkanen später selbst dem Alkohol verfallen war (worüber seine Frau Märta ausführlich schrieb), kommt in diesem Buch noch nicht vor; es ist ja auch der "Erste Teil" (wie es im Motto heißt) seiner Autobiografie. Dass das Buch zum Skandal wurde – und auf seine Weise dann doch eine Art Gruselgeschichte – liegt nicht nur an der mehr als freizügigen Lebensweise der Eltern, die von Feier zu Feier zogen und zahllose Liebschaften hatten. Sondern vor allem daran, dass er beinahe beispielhaft die Traumtänzerei seiner eigenen Schicht, den blutigen Krieg gegen einen übermächtigen Feind (an dem er selbst als 19-Jähriger teilnahm) sowie die Oberflächlichkeit der finnischen Gesellschaft allgemein attackiert.

Henrik Tikkanen: Brändövägen 8, Brändö. Tel. 35
Aus dem Schwedischen von Karl-Ludwig Wetzig
Verbrecher Verlag, Berlin 2014
152 Seiten, 22 Euro