Autobiografischer Gulag-Roman "Lager"

Welt der Kälte, des Hungers, der Erbarmungslosigkeit

Holzbretterzaun und Stacheldraht an einem ehemaligen sowjetischen Straflager
Holzbretterzaun und Stacheldraht an einem ehemaligen sowjetischen Straflager © dpa / Matthias Tödt
Von Jörg Magenau · 04.12.2015
Angela Rohr verbrachte 13 Jahre in verschiedenen sibirischen Lagern und überlebte nur, weil sie sich als Ärztin ausgab. In ihrem autobiografischen Erfahrungsbericht "Lager" protokolliert sie die Ereignisse in unterkühltem Ton. Doch ihre eigene Geschichte bleibt fast vollständig ausgeblendet.
So ein Buch entzieht sich der Kritik. Es ist wie es ist. Auch wenn Angela Rohrs Erinnerungen an ihre Jahre im Gulag als "autobiographischer Roman" verkauft werden, handelt es sich doch eher um einen Erfahrungsbericht, der allerdings keineswegs kunstlos ist. 1941 unter dem konstruierten Vorwurf der Spionage in Moskau verhaftet, verbrachte Angela Rohr 13 Jahre unter grauenhaften Bedingungen in verschiedenen sibirischen Lagern, bis 1954, nach dem Tod Stalins, die "ewige Verbannung" aufgehoben wurde. 1956 folgte die Rehabilitation und 1957 die Rückkehr nach Moskau. Die Jahre in der Gefangenschaft überlebte sie nur, weil es ihr gelang, sich als Ärztin auszugeben. In Berlin hatte sie einst ein paar Semester Medizin studiert und Vorlesungen gehört; im Lager hatte sie es dann mit Menschen zu tun, die sich Gift in die Augen träufelten, um zu erblinden, die sich die Finger abhackten aus Verzweiflung oder Glasscherben schluckten, alles nur, um der Sträflingsarbeit im Wald zu entgehen. Ein paar Tage im Lazarett galten als Erholungsaufenthalt in dieser Welt der Kälte, des Hunger, der Erbarmungslosigkeit.
Die Grauen des Gulags sind bekannt. Die Bücher von Alexander Solschenizyn, Jewgenia Ginsburg, Warlam Schalamow und zuletzt auch Herta Müllers mit dem Nobelpreis ausgezeichneter Roman "Atemschaukel" lassen da eigentlich keine Fragen offen. Angela Rohrs Bericht ist literarisch weniger dicht und konzentriert, verliert sich in den Details, doch sie fügt all diesen Berichten die Perspektive einer Ärztin hinzu, die für das Überleben der doch zum Siechtum und Sterben Verurteilten verantwortlich gemacht wird. Sie protokolliert die Ereignisse in einem unterkühlten Ton, fast als geschehe das alles nicht ihr selbst. Es gibt keine Klagen, sondern ein merkwürdiges Einverständnis mit der Lagerverwaltung und ihren diktatorischen Gesetzen, fast so, als herrsche da ein Rest von Vernunft.
Lebensgeschichte Angela Rohrs viel reicher als die Gulagzeit
Ihre eigene Geschichte bleibt fast vollständig ausgeblendet. Der "Roman" beginnt mit der Ankunft im Lager und endet mit dem Abschied nach der Rehabilitation. Nur an einer Stelle, als eine Diebin ihr die warme Jacke stiehlt, erfährt man, dass diese Jacke ihr von ihrem Mann geblieben ist, der mit ihr verhaftet wurde und den sie nie mehr wiedersah. Er kam schon bald um, was sie nicht wusste. Doch als sie dieses letzte Erinnerungsstück dann wiederbekommt, will sie es nicht mehr haben: Sie hat sich auch davon gelöst. Nichts bindet sie mehr an das Leben außerhalb.
Dabei wäre die Lebensgeschichte Angela Rohrs viel reicher als die Gulagzeit, in der es nur eine Temperatur gegeben hat: Frost, Elend, Gewalt und graue Tage. Geboren 1890 in Mähren, in Wien aufgewachsen, heiratete sie – nach einer frühen Schwangerschaft – mit 18 Jahren den Schriftsteller Leopold Hubermann. In zweiter Ehe war sie mit dem expressionistischen Dichter Simon Guttmann verheiratet, sie gehörte zum Züricher Dada-Kreis, machte die Bekanntschaft Lenins (dem sie angeblich vor der Rückfahrt nach Russland die Hand drückte). In ihrer an Else Lasker-Schüler erinnernden erotischen Anziehungskraft auf Dichter lernte sie dann auch Rilke kennen, der neben ihr und ihrem Talent, das Unglück magisch anzuziehen, sich als Meister der Schmerzen gewissermaßen überboten sah und die Flucht ergriff. Mit ihrem dritten Ehemann Wilhelm Rohr, einem Kommunisten und Filmkritiker, kam sie dann in den 20er-Jahren nach Moskau, das ihr – sie hatte einen russischen Pass – zur zweiten Heimat wurde. 1985 ist sie dort hochbetagt, in Armut und Vergessenheit gestorben.
In "Lager" erfährt man von all dem nur im Nachwort der Herausgeberin Gesine Bey. Sie unterrichtet auch über die Entstehung und die Geschichte des Manuskripts, das erst nach Angela Rohrs Tod publiziert wurde und heute im Archiv der Akademie der Künste liegt. Es ist das bedrückende Dokument einer zerschlagenen Biographie und das Zeugnis einer ungewöhnlichen, unbeugsam-vitalen und stets das Unglück anziehenden Frau.

Angela Rohr: Lager. Autobiographischer Roman
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gesine Bey
Aufbau Verlag, Berlin 2015
448 Seiten, 22,95 Euro

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