Aust: Ein eindrucksvoller Redner

Stefan Aust im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 23.12.2009
Am 24. Dezember jährt sich zum 30. Mal der Todestag von Rudi Dutschke. Am Tag des Attentats, an dessen Spätfolgen er starb, hatte sich Aust noch mit dem Studentenführer wegen eines Zeitungsartikels getroffen.
Liane von Billerbeck: Rudi Dutschke war das. Kurz vor dessen 30. Todestag sind wir jetzt mit Stefan Aust verabredet. Der einstige "Spiegel"-Chefredakteur hat ihn gekannt und über Dutschke und das thematische Umfeld auch geschrieben. Herr Aust, ich grüße Sie!

Stefan Aust: Guten Tag!

von Billerbeck: Man könnte ihn ja ein deutsch-deutsches Phänomen nennen, Rudi Dutschke. Was für ein Junge war er, wenn man an seine Zeit in der DDR denkt, wo er aufgewachsen ist und junger Mann war?

Aust: Über seine Zeit in der DDR weiß ich eigentlich herzlich wenig, und er war auch nicht jemand, der viel über die DDR gesprochen hat. Als ich ihn kennenlernte, also so '67/'68, da war er in Westberlin, und über den Osten wurde eigentlich wenig geredet, muss man sagen.

von Billerbeck: Das heißt, Rudi Dutschke als deutsch-deutsches Phänomen gibt es gar nicht?

Aust: Ach, das will ich nicht sagen. Wenn man das nachträglich jetzt sich ansieht, sich auch ansieht, wie sich die Stasi mit ihm beschäftigt hat – lange nicht so intensiv, wie wir gedacht haben. Die Akte Dutschke ist relativ dünn. Aber man hat eigentlich die DDR, auch Ostberlin, nicht wirklich auf dem Schirm gehabt zur damaligen Zeit. Die Studentenbewegung war ein westliches Phänomen, und zwar ein Westberliner Phänomen, und in dem Zusammenhang habe ich ihn kennengelernt. Ich war auch nie mit ihm zum Beispiel in der DDR. Ich war mit ihm im Prager Frühling, das war in der Tat sehr interessant.

von Billerbeck: Erzählen Sie doch mal, wie war das?

Aust: Na ja, es war im Frühjahr '68, also beim sogenannten Prager Frühling fuhr Rudi Dutschke nach Prag, und er fuhr mit seiner Frau, mit Gretchen, und mit Clemens Kuby, dem Sohn des Schriftstellers Erich Kuby, und Elisabeth Käsemann. Elisabeth Käsemann war eine Theologiestudentin, Tochter des Tübinger Professors für Theologie, die dann später – vielleicht ist das noch ganz interessant – nach Südamerika ging und von den Militärs, ich glaube, in Argentinien ermordet wurde. Und ich stieß von Hamburg aus – ich habe damals bei der Zeitschrift "Konkret" gearbeitet – dazu, und so haben wir ungefähr, ich weiß nicht, eine Woche in Prag zugebracht, sind mit auf den Straßen gewesen, als demonstriert wurde für einen, wie es damals hieß, Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Das war außerordentlich interessant, als Rudi Dutschke sozusagen mit der Realität des Sozialismus konfrontiert wurde. Es gab eine große Diskussion im Auditorium der Universität, war rappelvoll, und Rudi Dutschke versuchte, nun die Studenten vom Segen des Sozialismus zu überzeugen. Die waren aber nicht so richtig davon zu überzeugen, weil die ihn ständig konfrontierten mit der Realität. Rudi Dutschke hat da, glaube ich, selbst auch sehr viel gelernt. Er hat sehr viel zugehört, er hat sehr intensiv mit diesen Studenten diskutiert, aber man merkte plötzlich, dass zwischen sozusagen der sozialistischen Heilserwartung, die in der Studentenbewegung natürlich eine große Rolle spielte, und der Realität eines sozialistisch-kommunistischen Landes Welten lagen.

von Billerbeck: Sie haben geschildert, dass Rudi Dutschke in Prag sehr gut zugehört hat und viel gelernt hat. Hat er auch selber geredet und war er als Redner überzeugend, charismatisch?

Aust: Er war als Redner auf Deutsch und in Berlin bei großen Studentenbewegungsveranstaltungen, - beim Vietnam-Kongress, auch auf der Straße als Redner - war er außerordentlich eindrucksvoll. Das lag aber gar nicht so sehr an dem, was er sagte, es war der Ton, der die Musik machte. Dieser heisere Sound, da hat er unendliche Schachtelsätze von sich gegeben, mit außerordentlich vielen soziologischen Worten gespickt. Ich vermute mal, manchmal wusste er auch selbst nicht so richtig, was er meinte, aber es war sehr eindrucksvoll auf die Weise, die Art und Weise, wie er gesprochen hat. Es war wirklich, es war sozusagen politische Musik, was man da gehört hat. Und das hat die Leute unglaublich angeturnt.

von Billerbeck: Wie ist er dann mit seinem Ruhm umgegangen, den er ja dann hatte in der Studentenbewegung. Da gab es ja offenbar Leute, die sehr fasziniert waren von ihm, und Sie haben es ja auch eben geschildert, dass seine Wirkung auf Deutsch und in Berlin doch beachtlich war. Hat er sich verändert, hatte der so was wie Starallüren?

Aust: Nein, hatte er überhaupt nicht. Er war ein außerordentlich bescheidener Mann. Er war immer irgendwie mit den Füßen auf dem Boden, dieser Ruhm, der ihm nicht nur in der Studentenbewegung irgendwie nach- und vorwegeilte, sondern er war ein Star, aber er war mehr in der bürgerlichen Welt ein Star als als Revoluzzer. Und er war nicht eitel, er war kein bisschen eitel, übrigens auch immer ziemlich verschlampt. Wenn ich irgendwo ein Bild sehe mit seinem gestreiften Pullover, dann rieche ich den immer noch, muss ich wirklich sagen.

von Billerbeck: Sie haben es ja geschildert, Sie waren eine Woche lang zusammen in Prag, und wenn Sie sich mal in die Zeit zurückversetzen, hatte Rudi Dutschke damals Angst vor einem Attentat, denn das passierte ja dann am 11. April 1968?

Aust: Ich glaube, er hat nicht im Ernst gedacht, dass ihm jemand was tun würde, weil er auch davon überzeugt war, dass er eigentlich die richtigen Sachen machte. Und es war so, wir fuhren dann zurück und wir sollten und wollten gemeinsam eine Geschichte für "Konkret" machen, und zwar – war eine Monatszeitschrift und wir waren kurz vor Redaktionsschluss, und er kam natürlich wieder mit seinen Geschichten nicht über, weil er auch natürlich unzuverlässig und faul war. Und dann fuhr ich nach Berlin, flog ich nach Berlin am Mittwochabend, und wir gingen zu einem Italiener essen und sprachen über diesen Text, den wir da gemeinsam irgendwie ins Blatt hieven wollten. Und Rudi sagte, ja, ja, also er würde sich jetzt beeilen und er müsste aber noch Materialien aus dem SDS-Zentrum in Berlin holen am nächsten Vormittag. Und dann ...

von Billerbeck: Und das war der Gründonnerstag?

Aust: Ja. Und ich fuhr dann morgens zum Flughafen Tempelhof, und Rudi fuhr zum SDS-Zentrum, um dieses Material für diese Geschichte für "Konkret" abzuholen. Und ich wollte gerade ins Flugzeug steigen, da wurde ich ausgerufen, am Telefon müsste mich jemand dringend sprechen. Es war Clemens Kuby, und Clemens sagte: Es ist was ganz Schreckliches passiert, Rudi ist niedergeschossen worden. Und dann habe ich mein Ticket zurückgegeben und bin in ein Taxi gesprungen und bin zum Kurfürstendamm gefahren, und da lag das Fahrrad noch auf der Straße und Rudi Dutschkes Schuhe lagen auf der Straße.

von Billerbeck: Was dachten Sie damals, wer dieses Attentat verübt haben würde?

Aust: Na ja, gut, ich meine, jeder konnte sich ausmalen, dass es irgendein durchgeknallter Rechter war. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, wir waren alle so erschrocken und irgendwie erschüttert, dass das passieren konnte, dass man gar nicht so intensiv darüber nachgedacht hat, wer es nun gewesen sein konnte. Ich glaube auch, dass es dann sehr schnell klar wurde, wer das gewesen war. Natürlich hatte man die Vermutung, dass der irgendwie Teil eines größeren Netzwerkes war, was ja auch stimmte. Ich meine, ist ja jetzt erst nach vielen Jahren rausgekommen, aufgrund von Stasiakten, dass er zwar ein Einzeltäter offenbar gewesen ist, dass er aber also durchaus vernetzt war in der rechtsradikalen Szene. Als nach dem Mauerfall die Stasiakten einsehbar wurden, hat sich herausgestellt, dass – ich glaube, in dieser rechtsradikalen Szene zur damaligen Zeit gab es irgendwie 40 oder ... Stasispitzel –, und diese Spitzel haben natürlich Interna aus dieser Szene herausgetragen und an die Stasi weitererzählt, was auch westliche Polizeidienststellen offenbar nicht gewusst haben.

von Billerbeck: Über den Studentenführer Rudi Dutschke, dessen Todestag sich morgen zum 30. Mal jährt, sprechen wir mit dem einstigen "Spiegel"-Chefredakteur, dem Publizisten Stefan Aust. Wenn wir nach dem Leben fragen nach dem Attentat, wie hat sich Rudi Dutschke verändert, was für ein Leben hat er geführt, nachdem ihn das Attentat quasi aus dem Getriebe der Studentenbewegung rausgeschossen hat.

Aust: Na ja, also erstens Mal hat er ein wahnsinniges Glück gehabt, dass er überlebt hat. Ich meine, er hat einen solchen Schuss im Kopf gehabt, man konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass er überlebt. Er hat unglaublich hart daran gearbeitet, die Sprache wieder zu erlernen, wieder Bücher zu lesen, er hat aber natürlich immer noch so eine Art Gehirnstörung gehabt, die so ein bisschen wohl war wie ein epileptischer Anfall. Ich muss Ihnen sagen, ich habe ihn dann nach dem Attentat viele, viele Jahre nicht gesehen – er ist dann ja auch in England gewesen, er ist dann in Dänemark gewesen –, und dann habe ich ihn zufällig wiedergetroffen in einem Flieger von Pan American von Berlin nach Hamburg. Er erkannte mich auch sofort wieder, und wir sind dann auch sofort ins Gespräch gekommen und sind dann anschließend gemeinsam – ich glaube, weil er Geld brauchte – zu Rudolf Augstein nach Hause gefahren. Der hat ihm über viele Jahre, glaube ich, auch immer Geld gegeben in der Zeit, als es ihm wirklich richtig dreckig ging nach dem Attentat.

von Billerbeck: Hat sich Ihr eigenes Bild von Dutschke eigentlich über die Jahre verändert, von damals zu heute?

Aust: Na, was wir damals nicht so klar gewesen ist, das habe ich dann auch erst später erfahren, als ich mich ja sehr intensiv mit der RAF beschäftigt habe, dass auch Rudi Dutschke phasenweise sehr nah an der Gewalt war. Es gibt also viele Aussagen von ihm, die man geradezu sagen wir als Aufforderung zu Gewalttaten aus der heutigen Sicht betrachten kann. Und dann, als andere aus der studentischen Szene, also wie Andreas Baader, Gudrun Ensslin und später dann auch Ulrike Meinhof dann tatsächlich in den Untergrund gingen, da war er dann doch sehr weit davon entfernt. Da hat er wohl gemerkt, dass das nicht der richtige Weg ist. Er hat dann, wie ich finde, einen ganz großen Fehler gemacht, als das RAF-Mitglied Holger Meins in einem Hungerstreik zu Tode kam und dann beerdigt wurde, wo die gesamte Sympathisantenszene war, aber natürlich nicht nur die, sondern auch alte Weggefährten, Rechtsanwälte, alles Mögliche. Und bei dieser Beerdigung ist dann Rudi Dutschke vor laufender Fernsehkamera am Grab mit erhobener Faust gefilmt worden mit dem Satz: Holger, der Kampf geht weiter! Und das haben natürlich alle Leute, die das gesehen haben, und es ist sehr weit verbreitet worden, als eine Sympathie von Rudi Dutschke mit dem Untergrundkampf, mit dem Terrorismus der RAF interpretiert. Und Rudi Dutschke hat dann endlose Versuche unternommen, zum Beispiel mit einem langen Leserbrief an den "Spiegel", zu erklären, wie er das gemeint hätte, dass das sozusagen seine Solidarität mit dem revolutionären Kampf auf der ganzen Welt sei, aber nicht die Sympathie für diese Art von bewaffnetem Kampf, wie ihn die RAF in der Bundesrepublik durchgeführt hat.

von Billerbeck: Dieses Bild haben wir sicher alle in Erinnerung, aber ich habe jetzt gerade in einem "TAZ"-Interview mit dem Biografen von Rudi Dutschke, mit Ulrich Chaussy gelesen, dass er ihn als jemanden erlebt hat, der durchaus in der Lage war, sich zu verändern und sich zu wandeln.

Aust: Das glaube ich auch. Also er ist dann zu den Grünen gegangen, hat sich dann ja auch in einem umfangreichen Buch also mit Lenin und der russischen Revolution und so weiter auseinandergesetzt. Man weiß überhaupt nicht, wo der am Ende gelandet wäre politisch.

von Billerbeck: Könnte Rudi Dutschke heute noch ein Vorbild sein, und wenn ja, in welcher Hinsicht?

Aust: Ach, ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich weiß nicht, ob er ein Vorbild sein könnte. Dafür war er auch selbst zu zerrissen und auch ...

von Billerbeck: Zu eckig?

Aust: Ja, auch ein bisschen sehr wirr und auch gleichzeitig radikal in seinen Positionen. Er war eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Ich glaube, er war auch ein guter Mensch. Aber ich habe ihn eigentlich eher als Person geschätzt als als Ideologe.

von Billerbeck: Mit Stefan Aust, dem Journalisten und einstigen "Spiegel"-Chefredakteur sprach ich über Rudi Dutschke, der morgen vor 30 Jahren, am 24. Dezember 1979, an den Spätfolgen eines Attentats gestorben ist. Herr Aust, danke für das Gespräch!

Aust: Danke!
Attentat auf Dutschke - der Tatort am Kurfürstendamm, 11. April 1968
Aust: "Rudi Dutschkes Schuhe lagen auf der Straße."© AP Archiv