Ausstellung "Europas Neue Alte" in Berlin

Wenn der Leistungsdruck weg ist

Die Bewohnerinnen Ingeborg Kohlhauer (l, 89) und Ilse Wenz (r., 82) in Neu-Isenburg (Hessen) im Altenpflegeheim "Am Erlenbruch" im Sinnesgarten des Hauses.
Viele alte Menschen fühlen sich viel jünger als sie wahrgenommen werden. © dpa/picture alliance/Frank Rumpenhorst
Von Mike Herbstreuth · 02.05.2016
Kann eine Ausstellung Lust aufs Altwerden und Altsein machen? "Europas Neue Alte" - ein foto-ethnografisches Projekt im Museum Europäischer Kulturen in Berlin - wagt den Versuch: Die porträtierten über 65-Jährigen sind überraschend entspannt und zufrieden.
Die 76-jährige Französin Nicole, die fröhlich auf die Straße hinausschaut. Der 67-jährige José, der in seinem Weinkeller auf Lanzarote mit prüfendem Blick hausgemachten Alkohol in einem bauchigen Glas schwenkt. Der 73-jährige Schwede Ingemar, der stolz auf seinem Motorrad sitzt. Sie sehen ganz zufrieden aus, die alten Menschen Europas.
27 Protagonisten zeigt die Ausstellung insgesamt, auf 143 Fotos. Aber soll das reichen, um mir Lust aufs Alter zu machen - ein paar Rentner, die noch einigermaßen aktiv wirken und glücklich in die Kamera schauen? Und das, nachdem laut Statistischem Bundesamt sowieso 16 Prozent aller Deutschen schon vor dem Renteneintrittsalter sterben? "Europas neue Alte" ist allerdings keine reine Fotoausstellung und Fotografin Gabriele Kostas ging es nicht nur um Porträts. Sie fuhr mehrmals zu den Senioren und verbrachte viel Zeit mit ihnen. Ihr ging es um:
"Teilhabe am Alltagsleben, um darüber etwas erzählen zu können. Fotografisch wie textlich."

Zufriedenheitskurven und Zukunftspläne

Textlich in Form von Geschichten und Fragebögen, die die Ausstellung zu einem foto-ethnografischen Projekt machen. Gefragt wurde zum Beispiel nach Dingen, die den Fotografierten persönlich wichtig sind, oder nach Zukunftsplänen. Zu den Fragebögen gehört aber auch eine Zufriedenheits-Kurve, die alle Protagonisten zeichnen sollten. Von null bis 100 Prozent: Wie zufrieden waren sie in den verschiedenen Jahrzehnten ihres Leben, und wie zufrieden sind sie heute? Die Antworten haben Kostas überrascht:
"Wir gehen ja immer als Jüngere so ran, dass wir sagen: Ach, der Arme ist so alt und kann nicht mehr laufen. Aber in den Zufriedenheitskurven zeigte sich, dass die Leute sich anders wahrnehmen, als wir uns wahrnehmen."
Sie erzählt von einer Protagonistin, die nicht mehr gut lesen und schreiben konnte und der ein Bekannter beim Ausfüllen des Fragebogens geholfen hat. Als die Frau angab, sie sei im Alter von 80 Jahren sehr zufrieden gewesen, intervenierte der Bekannte.
Kostas, spielt Dialog nach:
"Aber da ist doch dein Mann gestorben! Da warst du Doch einsam! Ach so, hm, naja, vielleicht dann doch 70 Prozent? Also das heißt, wir haben eigentlich diese Erwartungen, aber die Realität sieht vielleicht anders aus."
Die überwältigende Mehrheit der Porträtierten ist heute sehr zufrieden - trotz Krankheiten, trotz geringer Rente, trotz der Tode geliebter Menschen. Viele befinden sich, nach eigener Angabe, aktuell sogar in der zufriedensten Phase ihres Lebens. Was vielleicht daran liegen könnte, dass diese Generation viel erlebt hat und durchmachen musste. Krieg, Vertreibung, Flucht.

Leben ohne Leistungsdruck

Kostas hat allerdings noch eine andere Theorie für die Alterszufriedenheit:
"Man muss nichts mehr werden. Dieser ganze Druck ist nicht mehr da, dieser Leistungsdruck, dieser Stress. Und das nimmt einfach viel Druck von den Leuten, sodass sie sich freier fühlen können. Ich glaube das ist mit einer der wichtigen Gründe dafür, dass die Leute zufrieden sind, wenn sie alt sind."
Natürlich zeigt die Ausstellung nur einen Ausschnitt. Die Protagonisten sind Bekannte von Kostas, manchmal auch Bekannte von Bekannten. Es gibt jede Menge Rentner, die ihr Leben nicht so selbstbestimmt und aktiv führen können wie "Europas neue Alte." Davon kommen einige wenige in der Ausstellung zu Wort. Aber auch bei diesen Alten fällt auf: Auch sie sind weitestgehend zufrieden. Einlullen lassen von dieser Alterszufriedenheit sollte man sich dennoch nicht – und die Gefahr besteht wohl auch kaum, dafür kennt jeder zu viele Gegenbeispiele. Trotzdem ergänzen sich Fotos und Texte in dieser Ausstellung zu einem Gesamtbild, das einen den eigenen Blick auf die Generation über 65 hinterfragen lässt. Und das vielleicht nicht unbedingt Lust auf das Altern macht, aber zumindest einige Ängste vor dem Alter nehmen kann. Denn am Ende hat Daniel Francois Esprit Auber wahrscheinlich doch recht: Alter ist noch immer das einzige Mittel, das man entdeckt hat, um lange leben zu können.

Die Ausstellung "Europas neue Alte. Ein foto-ethnografisches Projekt" ist vom 29.4.2016 bis 26.1.207 im Museum Europäischer Kulturen in Berlin zu sehen.

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