Ausstellung

Die Lust an der Grenzüberschreitung

Von Volkhard App · 10.02.2014
Das Sprengel Museum präsentiert Kurt Schwitters als den Urvater grenzüberschreitender Kunst. In der aktuellen Ausstellung in Hannover sind "Sammelkladden" des Künstlers zu sehen, in denen er Texte und Bilder gebündelt hat.
Er war einer, der mit höchst unterschiedlichen Materialien spielte. "Bleichsucht und Blutarmut” steht, von Schwitters aus einer Zeitschrift ausgeschnitten, auf dem Einband einer der gezeigten fünf Kladden. In ihnen sammelte der hannoversche "Merz”-Matador Zeitungsartikel, die - meist zwischen 1919 und 1923 - zu seinen Kunstaktionen Stellung bezogen oder auch zur Entwicklung der Avantgarde schlechthin.
Auch Briefe von Galeristen, Herausgebern und Künstlerkollegen sind hier zusammengetragen - gelegentlich ergänzt durch eingeklebte Anzeigen, Arztrezepte, Bildpostkarten von Kunstwerken, und sogar eine Schneiderrechnung findet sich in dem Material. Für die Kuratorin Isabel Schulz, Leiterin des Schwitters-Archivs, sind diese Hefte und Bücher Kunstwerke - selbst dort, wo nur Zeitungsartikel aneinandergereiht wurden:
"Er ist als Collagist, der sich vom Material anregen lässt, immer präsent, selbst wenn er nur dokumentieren und kategorisieren will. Immer wieder werden diese Versuche, eine Ordnung hineinzubringen, unterlaufen von seiner eigenen bildnerischen Arbeit, indem er zum Beispiel farbige Papiere auf einigen Seiten integriert. Er hat immer auch als Bildender Künstler gelesen und geklebt."
Deutlich wird die künstlerische Leistung von Schwitters:
"Auf jeden Fall wird bei Schwitters die Einheit von Text und Bild deutlich. Als einer der ersten in der Moderne hat er es geschafft, diese Grenze zwischen Sprache und Bildkomposition zu überschreiten und alles zusammenzubringen."
Ablehnung in den 20er-Jahren
Eines dieser Hefte spielte eine Sonderrolle, es war 1922 bei einer Ausstellung als eine Art Gästebuch ausgelegt. Die Einträge der Besucher spiegeln die großen Irritationen angesichts der aus Alltagsmaterialien montierten Bilder. Auch die Empfehlung, sich in eine psychiatrische Anstalt einweisen zu lassen, ist in dem Besucherheft nachzulesen- und stand damals in mancher Zeitungskritik. Wie sehr hat den Künstler die Ablehnung seiner Werke in den 20er-Jahren berührt?
"Die Kladden bieten schon eine Innenansicht dessen, was Schwitters erfahren hat in den Auseinandersetzungen mit Kritikern, Zeitschriftenredakteuren und Künstlerkollegen. Doch es wird eigentlich nie privat, sodass man nie dem Menschen, seinen Emotionen in den Kladden begegnet. Er bleibt Stratege, der mit dem Material künstlerisch umgeht und darauf professionell reagiert. Er benutzt diese Kritiken, auch die Beleidigungen, um damit wiederum eigene Polemiken zu schreiben."
Eine weitere Kladde versammelt die öffentlichen Reaktionen auf die dadaesken Vortragsabende 1923 in Holland, veranstaltet mit den Avantgardisten der Gruppe "de Stijl”. Es kam zu Tumulten. Im ganzen viel Material zur Rezeptionsgeschichte von Schwitters. Dabei haben diese Hefte und Bücher Platz in kleinen Wandvitrinen - erweitert durch eine Projektion, die den Blick auf einzelne Seiten möglich macht.
Rundherum in den Räumen attraktives "Beiwerk": Grafische Blätter, auf denen Schwitters Sprachpartikel verarbeitet hat. Nicht zu vergessen das Plakat mit dem "Anna Blume” - Gedicht, das 1920 an Litfaßsäulen, aber auch in Buchform und durch den Vortrag des Künstlers Furore machte:
"Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir!"
Moderne ästhetische Verarbeitung
Eine zweite Ausstellung neben der Schwitters-Präsentation veranschaulicht unter dem Titel "Report", wie moderne Künstler vor allem in der 60er- und 70er-Jahren mediale Informationen und Dokumente auf ihren Bildern verarbeitet haben: Ob es sich um Fotos mit dem toten Che Guevara handelte oder um einen Schnappschuss von Mick Jagger, den man wegen Drogenbesitzes festgenommen hatte. Von Joseph Beuys über Richard Hamilton bis zu Andy Warhol reicht das Spektrum dieser den Medien zugewandten Künstler - doch ist die Anbindung an Schwitters eher von lockerer Art.
Seine fünf, bislang weitgehend unbekannten Kladden sind im Sprengel Museum die eigentliche Attraktion - ihnen auch ist der erste Band einer neuen, neunbändigen Schwitters-Edition gewidmet, die sich mit erweitertem Blick seinen literarischen Werken zuwendet- und dabei jener Lust an der Grenzüberschreitung zwischen den Kunstdisziplinen. Mitherausgeberin Ursula Kocher von der Bergischen Universität in Wuppertal hat sich bei ihrer Arbeit davon überraschen lassen:
"... dass jemand literarisch tätig ist, es aber keine richtige Trennung zwischen Text und Bild gibt, er vielmehr ein Gesamtkünstler dieses Ausmaßes ist, der in den 20er-Jahren so modern arbeitet, dass wir ihn heutzutage als Beispiel für moderne ästhetische Verarbeitung sehen können."
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