Ausstellung "1945" in Berlin

Ein Mädchen ohne Kindheit

Stelen mit Fotografien von Überlebenden des Zweiten Weltkrieg stehen im Foyer der Ausstellung "1945 - Niederlage. Befreiung. Neuanfang. Zwölf Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg" im Deutschen Historischen Museum in Berlin.
Stelen mit Fotografien von Überlebenden des Zweiten Weltkrieg stehen im Foyer der Ausstellung "1945 - Niederlage. Befreiung. Neuanfang. Zwölf Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg" im Deutschen Historischen Museum in Berlin. © picture alliance / dpa / Gregor Fischer
Von Burkhard Birke · 24.04.2015
Marie Louise Cooreman war zu Kriegsende noch ein Kind. Ausleben konnte die Belgierin ihre Kindheit aber nicht. Stattdessen musste sie sich um den kranken Vater kümmern. Ihre Biografie ist der Teil Ausstellung "1945" im Deutschen Historischen Museum.
"Ca c’est le fameux carnet…"
Stolz zeigt Marie Louise Cooreman auf ein kleines schwarzes Notizbuch hinter der Glasvitrine der Sektion Belgien. Wie viele ihrer Altersgenossen sammelte sie damals Süßigkeiten und Unterschriften bei alliierten Soldaten. Die zwölfjährige Marie Louise war freilich eine besonders erfolgreiche Autogrammjägerin: Bing Crosby!? Das weckt auch das Interesse von Außenminister Steinmeier beim Eröffnungsrundgang:
"Wie haben Sie denn den getroffen?"
"Er war in Brüssel. Ich wusste nicht, wer das war. Ich war 12 und hatte keine Filme von ihm gesehen. Ich hab ihm einfach das Buch hingehalten und um ein Autogramm gebeten."
Das zählt zu den wenigen angenehmen Erinnerungen von Marie Louise Cooreman. Das Gros indes war geprägt von Schmerz und Leid. Sie hat sie jahrelang verdrängt.
"Das war eine sehr turbulente Zeit für mich. Im September 1944 war der Krieg vorbei und ein Jahr später ist Papa gestorben. Er war sehr krank und das ist eine Zeit, die ein Loch in mein Leben gerissen hat…."
Verlorene Kindheit
Um der Zwangsarbeit zu entgehen, hatte sich ihr Vater versteckt, erkrankte, konnte aus Angst vor Entdeckung durch die Nazis oder Kollaborateure nicht medizinisch behandelt werden. Statt zu spielen, musste die kleine Marie Louise auf ihren Vater aufpassen, denn die Mutter war gezwungen, den Lebensunterhalt zu verdienen. Der über 80-Jährigen schießen die Tränen in die Augen, wenn sie darüber spricht. Auch aus Trauer über eine verlorene Kindheit?
"Wenn ich sehe, was meine Kinder und Enkel im Alter von sieben bis zwölf machen konnten und können, …. das war unmöglich für mich: Ich war nie im Kino, fuhr nie in Urlaub, vom Essen ganz zu schweigen…. mir fehlen einfach fünf Jahre meines Lebens."
Groll gegen Deutschland oder die Deutschen hegte sie nie deshalb, bestätigt auch Tochter Christiane. Über die harten Nachkriegsjahre ihrer Mutter erfuhr sie erst, als diese sich nach einem Aufruf des belgischen Radios als Zeitzeugin mit ihrem Autogrammbüchlein und vor allem einem Brief ihres Vaters meldete. Der hatte in dem Schreiben an die Presse angeprangert, dass nur Kämpfer, nicht aber diejenigen, die sich vor der Zwangsarbeit in den Untergrund begeben hatten, als Widerständler geehrt oder zumindest anerkannt wurden.
Widerständler, Kollaborateure, Opfer - das Deutsche Historische Museum hat die verschiedensten Biographien aus 12 Ländern zusammengetragen, um – ohne Anspruch auf Vollständigkeit - ein möglichst akurates Bild vom Kriegsende zu zeichnen, das alles andere als eine Stunde null war. Kuratorin Maja Peers:
36 Geschichten beispielhaft ausgewählt
"Es gibt 36 Geschichten, aber es sind eigentlich natürlich Tausende von Geschichten, die einem hier begegnen und jede einzelne ist auf ihre Art und Weise spannend, weil auch der unterschiedliche Umgang mit Tätern sehr heterogen ist, und das haben wir versucht hier auch aufzuzeigen."
Etwa anhand des SS Mannes Karl Schulz, der später eine leitende Funktion im Landeskriminalamt Bremen bekleidete. Unter Leuten wie Karl Schulz hat die Bevölkerung in Osteuropa besonders gelitten: Dort gab es die meisten Opfer. Dennoch will die Ausstellung den Blick aber auch und gerade in Länder wie Luxemburg oder Belgien lenken. Die Historikerin Babette Quinkert:
"Erschreckend, dass Belgien im September 44 die Befreiung durch die Alliierten feiert und mit der Ardennenoffensive kehrt der Krieg noch einmal in das Land zurück, d.h. große Zerstörung, großes Leid folgen auf diese Phase der Euphorie der Krieg ist zu Ende und dann kommt der Krieg noch einmal zurück."
Sich daran zu erinnern fällt Marie Louise Cooreman schwer. Viele Jahre konnte sie gar nicht über jene harten, ihre verlorenen Jahre sprechen. Nach dem Aufruf des belgischen Radios und durch die Ausstellung hat sie Leidensgenossen und ihre Sprache sowie Zuhörer gefunden, auch und zunächst in der eigenen Familie:
"Mein 30-jähriger Sohn hat mir gestern am Telefon gesagt, dass er jetzt entdeckt, was seine Oma durchgemacht hat und wie wichtig es ist, darüber zu sprechen und dass die Zeitzeugen berichten."
Christiane Frans versteht seither ihre Mutter besser. Marie Louise Cooreman wirkt befreit und ihre Botschaft ist klar:
"Vor allem nie wieder Krieg!"
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