Außenseiter im Mittelpunkt

Vorgestellt von Hans-Ulrich Pönack · 20.12.2006
Ein Schweizer Wunderkind namens Vitus ist die Hauptperson des gleichnamigen Spielfilms. Nur bei seinem Großvater – hinreißend gespielt von Bruno Ganz – darf er wirklich Kind sein. Der Protagonist in Aki Kaurismäkis neuem Film "Lichter der Vorstadt" ist ein einsamer Wachmann in einer modernen Kaufhaus-Passage.
"Vitus"
Schweiz 2005, Regie: Fredi M. Murer, Hauptdarsteller: Bruno Ganz, Teo Gheorghiu, ohne Altersbeschränkung

"Vitus" von Fredi M. Murer, einem inzwischen 66-jährigen Schweizer Regisseur und Drehbuch-Autor, der seit 1962 16 Filme - darunter drei abendfüllende Spielfilme - realisiert hat. Hierzulande wurde er vor allem durch seinen Spielfilm "Höhenfeuer" bekannt (= angesiedelt in der Abgeschiedenheit der Schweizer Berge, im Bergbauernalltag-Milieu), für den er 1985 unter anderem mit dem "Goldenen Leopard" beim Locarno-Filmfestival ausgezeichnet wurde.

Hier nun hat er einen Film miterfunden (= die beiden weiteren Drehbuch-Autoren heißen Peter Luisi und Lukas B. Suter) und inszeniert, die in der Schweiz mit rund 180.000 Besuchern ein Riesenpublikumserfolg war, jetzt die Schweiz bei der "Oscar"-Nominierung für den "besten ausländischen Film" vertritt und zu den "schönsten Disney-Filmen zählt, die Disney nie gemacht hat".

Dabei im Mittelpunkt: Ein Schweizer Wunderkind namens VITUS. Als wir ihn das erste Mal kennen lernen, ist er 6. Er hört so gut wie eine Fledermaus, liest anstatt Kinderbücher den Brockhaus, löst bereits komplizierte Mathematikaufgaben und spielt wunderbar Klavier. Während die ehrgeizige Mutter ganz verzückt ist über so viel Begabung und ihren kleinen Bengel schon mal auf Partys "vorführt", staunt der Vater nur über das außergewöhnliche Talent seines Knaben und hat im Übrigen als Hörgeräte-Akustiker wenig Zeit.

Kein Wunder, dass der verwitwete Großvater, ein kauziger Schreiner, der in einem verwunschenen Bauernhaus lebt, immer öfter zum wahren Ansprechpartner und Ratgeber für den kleinen über-begabten Vitus wird. Denn bei IHM findet er Ruhe wie Geborgenheit, darf, soll einfach "nur Kind" sein. Sechs Jahre später ist dieses innige Verhältnis zwischen Großvater und Vitus eher noch gewachsen. Während der nunmehr 12-Jährige "in der Welt" wegen seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten immer mehr zum Außenseiter mutiert ist, gibt der Alte ihm den gewünschten emotionalen wie geistigen Freiraum.

Doch dann passiert es: Ein unglücklicher Sturz bringt die Wende. Vitus übersteht zwar die Verletzungen, scheint aber dadurch zu einem "völlig normalen Jungen" geworden zu sein. Was den Großvater freut und die Eltern ein bisschen verstört. Aber dies bedeutet noch längst nicht den Schlussakkord in dieser schönen Geschichte, ganz im Gegenteil.

"Vitus" ist ein Film für alle. Thema: Wie ein sehr kluges Kind erst einmal die Lebensprobleme der Erwachsenen lösen muss, bevor es seine eigenen anpackt. Welche inspirierende Kraft und Wirkung Musik auszuüben versteht, wenn man sie nur "richtig einsetzt". Wie sehr es lebensbelastend sein kann, "außerhalb der Norm" begabt, talentiert zu sein. Gute wie angenehm-nachdenkliche Laune vermischt sich mit sehr unangestrengten, hübsch pointierten, fein-überraschend entwickelten Gedanken, Motiven, Einfällen.

Ein toller Familien-Film, bei dem Seele wunderbar leicht wie stimmungsvoll sicht- und fühlbar wird. Dass dies eben nicht zu Kitsch, Oberflächlichkeit und Langeweile verkommt, ist auch den hervorragenden Darstellern zu danken. Julia Jenkins hält als glückliche wie staunende Mama genau die Balance zwischen Fürsorglichkeit und "Zirkusfrau", während der endlich einmal wieder "leicht" auf der Leinwand erscheinende Bruno Ganz ("Der Untergang"; "Brot und Tulpen") ganz altersweise-leise-verschmitzt den subversiven Opa charmig-grandios spielt: Ein hinreißender Vagabund des Herzens.

Der Höhepunkt aber sind die beiden Kinder-Darsteller: Fabrizio Borsani öffnet als "Kleiner" schon die Herzen mit seinem unbekümmert-schönen Spiel. Die Krönung aber heißt Teo Gheorghiu. Das Leinwand-Wunderkind wird von einem "echten" Wunderkind verkörpert. Denn der heute 14-Jährige, Sohn rumänisch-stämmiger Eltern mit kanadischem Pass, studiert seit fünf Jahren an einer Elite-Schule für musikalisch-hochbegabte Kinder in London, ist in der Schweiz aufgewachsen, spricht Schweizerdeutsch und zwei weitere Sprachen fließend, ist leidenschaftlicher Fußballfan (Manchester United) und nun auch als "tragender" Schauspieler ein riesiges Talent.

Und: Am 7. Oktober 2004 (= also mit 12 Jahren) gab Teo - als Vitus - im Rahmen der Dreharbeiten sein Debüt in der Zürcher Tonhalle mit Schumanns Klavierkonzert a-Moll. Ein Glücksfall sondergleichen also – für den Regisseur, für den Film, für seine Betrachter. Das Vergnügen bei diesem ebenso originellen wie augenzwinkernden Poesie-Märchen mit Realo-Geschmack ist enorm. Und tut unterhaltungsmäßig richtig gut. Ein starker Wohlfühl-Film.

"Lichter der Vorstadt"
Finnland / Deutschland 2006. Regie: Aki Kaurismäki; Mit: Janne Hyytiäinen, Maria Järvenhelmi, Maria Heiskanen, Ilkka Koivula, Sergej Doudko, ab 6 Jahre

"Lichter der Vorstadt" von Aki Kaurismäki, dem finnischen Melancholiker vom Jahrgang `57, der seit vielen Jahren in den traurigen "Tramp"-Fußstapfen eines Charlie Chaplin feine "Unterschichten"-Klassiker (wie "Schatten im Paradies"; "Das Mädchen aus der Streichholzfabrik") geschaffen hat. 1996 begann der depressive Trinker-Philosoph mit seiner "Trilogie der Verlierer".

Während es im ersten Film - "Wolken ziehen vorüber" - um den Verlust der Arbeit ging, thematisierte Kaurismäki 2002 in, mit "Der Mann ohne Vergangenheit " den Verlust der Wohnung, die Obdachlosigkeit. Jetzt behandelt er den Verlust der sozialen Existenz.

Sein Protagonist ist ein einsamer Wachmann in einer modernen Kaufhaus-Passage. Koistinen heißt er. Unauffällig versieht er seinen Dienst, wird aber im Kollegenkreis gerne gehänselt, weil er kaum etwas sagt, meistens nur traurig vor sich hinblickt und trübe Gedanken pflegt. Ein typischer Außenseiter-Außenseiter, der, wenn er dann doch ab und an mal etwas sagt, eher spinnert-träumt.

Als er der schönen Mirja begegnet, hofft er auf Partnerschaft, gerät aber stattdessen in den Strudel von Verbrechern und Menschenschindern, die ihn, den Schwachen, den Loser, "den naiven Tölpel", das ewige Opfer, gerne für ihre kriminellen Zwecke benutzen.

Waren in den vorigen Kaurismäki-Filmen "irgendwo entfernt" noch Außenseiter-Gefühle von Nähe, Berührung, Hoffnung denkbar, hat sich nun bei Kaurismäki endgültig die totale menschliche Kälte durchgesetzt. Allerdings dermaßen stilisiert, maniriert, unpoetisch, erbarmungslos und dick aufgetragen, dass das sonst so hochgeweckte Interesse, das sonst so berührende Verständnis mit diesen Menschen nunmehr in die Nähe von Desinteresse, Unglaubwürdigkeit, Langeweile rauscht.

Diese Dauer-Regungslosigkeit, in der dieser Koistinen verharrt, wirkt nur noch verstörend bis egal. Der chancenlose gute Mensch, der gegenüber "dem Ausbeuter" keine Chance mehr hat, wird mehr als übertrieben dargestellt. Zudem: Wenn man an die ergreifenden Typen der Kaurismäki-Klassiker denkt, männlich wie weiblich (Matti Pellonpää, Kati Outinen), wirkt der heutige Hauptakteur Janne Hyytiäinen wie ein armer Depp mit "selbstverschuldeter Doofheit". Ein kleiner, radikaler Höllenfilm mit nur begrenzter Anteilnahme-Wirkung.