Aussenpolitik

"Gauck hätte etwas zu Waffenexporten sagen müssen"

Der Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Harald Müller, aufgenommen am 01.12.2013 im Biebricher Schloss in Wiesbaden (Hessen) nach der Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille 2013.
Der Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Harald Müller. © picture alliance / dpa / Fredrik Von Erichsen
Harald Müller im Gespräch mit Ulrich Ziegler · 21.06.2014
Das von Bundespräsident Gauck geforderte Engagement der Bundeswehr gebe es längst, betont Harald Müller. Den Leiter der Stiftung Friedens- und Konflikforschung interessiere vielmehr dessen Haltung zum Thema Waffenexporte.
Deutschlandradio Kultur: Herr Müller, der Westen blickt mit Sorgen in den Nahen Osten, vor allem in den Irak. Denn dort erobert die Islamistengruppe Isis Stadt um Stadt. Es kommt zu Massenhinrichtungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen. Das Land droht sich aufzulösen. – Bricht jetzt dort etwas auseinander, was gar nicht zusammengehört?
Harald Müller: Das Land ist eigentlich seit seiner Entstehung und insbesondere seit der Machtübernahme durch Saddam Hussein nur durch eine repressive Zentralregierung zusammengehalten worden.
Deutschlandradio Kultur: So wie in Syrien auch?
Harald Müller: Genau. Es ist ein postkoloniales Kunstprodukt, Ergebnis des Ersten Weltkriegs und seiner Folgejahre. Und es hat sich eigentlich ein wirklich durchgreifendes Nationalbewusstsein dort nie entwickelt. Die Kurden fühlen sich in erster Linie als Kurden und nutzen im Augenblick die Entwicklung dazu aus, um ihre Autonomie zu erhöhen, ihr Gebiet zu erweitern und möglicherweise, je nach dem, wie die Dinge weiterlaufen, dort endlich einen kurdischen Nationalstaat zu gründen.
"Die irakischen Schiiten und Sunniten haben sich nie versöhnt"
Und die irakischen Schiiten und Sunniten haben sich nie versöhnt. Das ist immer eine sehr, sehr spannungsreiche Beziehung gewesen. Und die Schiiten nehmen jetzt mit großem Beharren Revanche dafür, dass sie ein halbes Jahrhundert lang von der sunnitischen Minderheit unterdrückt worden sind.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt also: Was wir hofften, dass es diesen arabischen Frühling gibt in Ägypten, möglicherweise auch in Syrien oder anderswo, hat sich völlig gedreht. Wir erleben jetzt einen Frühling der Gotteskrieger?
Harald Müller: Wir müssen uns immer zurücklehnen und in die eigene Geschichte zurückschauen und mal nachrechnen, wie lange es gedauert hat, bis sich in Europa stabile Nationalstaaten herausgebildet haben. Diese Länder sind aus dem Kolonialismus in eine nationale Freiheit entlassen worden, die im Grunde nur der erste Schritt zu einem ganz, ganz langen Prozess der Herstellung des inneren Gleichgewichts mit möglicherweise neuen Grenzziehungen usw. Und das dauert. Das dauert möglicherweise sogar nochmal Jahrhunderte und wir werden immer wieder neue Instabilitäten und äußerst unangenehme und blutige Geschehnisse erleben.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir aber in die kürzere Geschichte zurückschauen, ich meine die Invasion der Amerikaner in den Irak und die Koalition der Willigen, war das jetzt im Nachhinein betrachtet der Fehler, weil keine Ordnung geschaffen wurde, die möglicherweise das Land zusammenhält?
Harald Müller: Ich weiß nicht, ob das überhaupt gehen kann. Dieses ganze Irak-Abenteuer war eine Mission Impossible, wie übrigens auch Afghanistan. Von außen Nationenbildung und Demokratisierung zu betreiben, ist ein religiöser Glaube in die Macht der Sozialtechnologie, der keiner Analyse standhält. Solche Dinge müssen sich von innen heraus entwickeln. Man kann von außen behutsam versuchen Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen das einigermaßen gut gehen kann, aber es ist immer eine Sache der Leute vor Ort, die Entwicklung zustande zu bringen. Was die Amerikaner da gemacht haben, war vollkommen zweck- und sinnwidrig. Es war destabilisierend ganz ohne jede Frage. Und das Ziel war unerreichbar.

Deutschlandradio Kultur: Die Amerikaner haben 25 Milliarden in die Ausbildung der irakischen Armee investiert mit dem Versuch auch zu sagen, wir wollen eine Streitmacht aufbauen für alle Volksgruppen, die dann auch für Stabilität im Land sorgt. – Diese Idee ist doch nicht falsch.
Ein mit irakischen Soldaten besetzter Panzer feuert auf einem Schießplatz im Rahmen eines gemeinsamen Manövers des US-amerikanischen und des irakischen Militärs.
25 Milliarden haben die Amerikaner in die Ausbildung der amerikanischen Armee investiert - hier ein gemeinsames Manöver.© picture alliance / dpa / Spc. Timothy Koster
Harald Müller: Die Idee ist natürlich nicht falsch, aber wenn die Volksgruppen das selber gar nicht wollen, wenn die Identifikation der Menschen eben mit den Gruppen ist und nicht mit der Nation, die es gar nicht gibt, dann kann das nicht funktionieren. Dann zerfällt natürlich die Armee in dem Augenblick, wo das Geld ausbleibt oder wo die Repression der Besatzungsmacht entfällt, zerfällt in ihre Einzelteile.
Wir erleben es, dass ganze Brigaden überlaufen im Augenblick im Irak, dass andere natürlich bei der Regierung bleiben und dass Dritte sich verkrümeln, weil sie einfach keine Lust mehr haben zu kämpfen. Diese Armee war ein Kunstgebilde. Eine irakische Nationalarmee wird sich letzten Endes erst irgendwann durch die Iraker selbst bilden.
Deutschlandradio Kultur: Wir müssen einfach abwarten, zuschauen? Das kann es doch auch nicht sein.
Keine vielversprechenden Handlungsoptionen
Harald Müller: Wenn Sie in der Lage sind, vernünftige, vielversprechende Handlungsoptionen zu entwerfen, die die Dinge nicht noch schlimmer machen als sie ohnedies schon sind, dann bin ich der Erste, der da hinterher läuft. Ich sehe das nur nicht.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt machen Sie aber Friedens- und Konfliktforschung. Man könnte ja auch speziell an Sie die Frage stellen: Was kann man heute tun, um diese Gotteskrieger zu stoppen, um zu verhindern, dass es weiterhin zu Massentötungen kommt, zu Verstümmelungen, zu Vergewaltigungen?
Harald Müller: Also, ich sage Ihnen, was passieren wird: Es wird vermutlich eine informelle unheilige Allianz der Amerikaner, der Iraner, möglicherweise auch der Türken geben, die mit militärischen Mitteln den Vormarsch stoppen wird, weil das eine Koalition ist, die sicher stärker ist als die sunnitische Minderheit oder die Minderheit in der sunnitischen Minderheit, die dort kämpft. Aber das löst natürlich das Problem nicht, sondern es beendet oder fängt eine Episode auf, wie ich gesagt habe, in dieser inneren Entwicklung des Irak. Und nach zehn oder fünfzehn Jahren oder auch schneller wird die nächste Episode kommen.
Das heißt nicht, dass man das nicht machen muss. Es ist natürlich irgendwo sinnvoll, dass man ein Taliban-Regime im Irak verhindert. Wobei natürlich immer noch das große Fragezeichen ist, ob es die ISIS ist, also die radikalen Islamisten, die dort wirklich das Gesetz des Handelns bestimmen, oder die Erben Saddam Husseins unter dem formidablen al-Duri, die dort die Fäden ziehen. Es gibt beide Deutungen und wir sind, glaube ich, zu weit weg, um wirklich zu entscheiden, was da Sache ist.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir aber die letzten Worte des amerikanischen Präsidenten nochmal uns vor Augen führen, Barack Obama sagt auf alle Fälle: Wir wollen keine militärische Intervention machen. Wir schicken nochmal 275 Soldaten in die Krisenregion, damit wir möglicherweise die Botschaft absichern. Das heißt, die Amerikaner haben kein Interesse mehr wie vor zehn Jahren, sich verstärkt in dieser Region zu engagieren.
Harald Müller: Ich bezweifle das. Sie haben auch einen Flugzeugträger in den Persischen Golf geschickt. Das ist eine ausgesprochen massive Machtprojektion und die Fähigkeit, weit in das Land hinein zu wirken. Man spricht mit dem Iran, der Iran, der selbst erklärt hat, dass er dort eingriffsbereit ist, der tatsächlich auch schon Teile der Revolutionsgarden im Irak stehen hat. Das spricht nicht dafür, dass die Amerikaner zwangsläufig dort abstinent bleiben. Wenn wirklich die Islamisten auf Bagdad marschieren und Bagdad nahe kommen, kann ich mir nicht vorstellen, dass selbst ein Obama sich da raushält.
Ich glaube nicht, dass die Amerikaner Bodentruppen schicken, aber das Einwirken vom Persischen Golf her aus der Luft und auch mit Drohnen halte ich für hoch wahrscheinlich.
Deutschlandradio Kultur: Und auch für sinnvoll, wenn es soweit kommen würde?
Harald Müller: Ich sage, um diese Episode zu beenden, ist es ein Mittel. Es fallen den politischen Führern im Moment keine anderen ein. Aber es wäre eine Illusion zu glauben, damit wäre alles ausgestanden.
Deutschlandradio Kultur: Solche Kriege, wie wir sie im Moment erleben, müssen ja irgendwie auch finanziert werden. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach eigentlich diese reichen Golfstaaten, wie Saudi Arabien oder Katar? Auf der einen Seite sagen sie immer, sie wären das Bollwerk gegen den islamischen Radikalismus. Andererseits gibt es Meinungen, die sagen, die schicken Milliarden an die Gotteskämpfer, damit die Krieg führen können.
"Die Saudis und auch die Kataris fördern den islamischen Fundamentalismus"
Harald Müller: Also, es gibt letzten Endes keine scharfe Grenze zwischen der Art von Salafismus in Form des Wahhabismus, der in Saudi Arabien herrscht, und der Ideologie der Al Kaida oder der ISIS. Das ist eine Grauzone, die ineinander übergeht. Und die Saudis und auch die Kataris fördern den islamischen Fundamentalismus weltweit – auch bei uns im Land. Und sie fördern ihn auch ganz explizit im Irak und in Syrien. Das heißt, dass letzten Endes saudisches Geld mit Sicherheit auch in die Hände der ISIS fließt.
Deutschlandradio Kultur: Und auch Waffen?
Harald Müller: Sicher auch Waffen. Die Saudis sind ja hervorragend hoch- und ausgerüstet durch alle möglichen Beiträge, unter anderem auch deutsche. Und es wird mit Sicherheit dort auch weitergegeben.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben es angesprochen und man kann es auch nachlesen. Laut letztem Rüstungsexportbericht gab es umfangreiche Genehmigungen von deutschen Waffenlieferungen nach Algerien, Katar und Saudi Arabien. Spielt Deutschland da ein Doppelspiel?
Harald Müller: Deutschland möchte, so heißt es, den Stabilitätsanker am Persischen Golf stärken. Das entspricht einem Bild, in dem der Iran der Risikofaktor ist und die konservativen Golfstaaten die Stabilität gewähren. Ich halte das für extrem kurzsichtig. Es vergisst vollständig die Lehren aus den letzten Jahren des Schah von Iran in den 70er-Jahren, als alle Welt, vor allen Dingen der Westen, vom Schah als dem Stabilitätsanker am Persischen Golf sprach und ihn unter den Gurgelknopf mit modernen Waffen voll stopfte. – Mit der Folge, dass innerhalb eines Jahres der Schah weg war und das radikalste islamische Regime, was wir bis dahin gesehen hatten, den Iran übernommen hatte, der neue Hauptfeind nicht nur der Vereinigten Staaten, sondern auch Israels.
Saudi Arabien wird von zehntausend Prinzen regiert in Koalition mit einer sunnitischen Geistlichkeit, die sehr radikal, sehr fundamentalistisch ist. Aber es gibt durchaus ein Anzeichen dafür, dass es im Hintergrund brodelt, aber nicht nur eben unter jungen demokratischen Saudis, sondern auch genau auf der anderen Seite. Al Kaida hat dort ja auch schon Anschläge verübt. Das heißt: Ob diese saudische Regierung das Land noch regiert, wenn die Lebenszeit der dorthin exportierten Waffen vorbei ist, die Wahrscheinlichkeit ist wenig über Null. Wenn dort eine radikalere Version des Islam an die Macht kommt, dann sieht es nicht nur um die Sicherheit der unmittelbaren Nachbarn schlecht aus, sondern gerade auch für die Sicherheit Israels.
Und ich frage mich, was dann eine Bundesregierung sagen wird, die mit dem Vorwurf konfrontiert wird, dass deutsche Waffen gegen Israel eingesetzt werden.
Deutschlandradio Kultur: Deshalb will ich nochmal nachfragen: Hätten Sie sich vielleicht in den letzten Wochen gewünscht, dass der Bundespräsident, nachdem der Rüstungsexportbericht veröffentlicht wurde, vielleicht an der Stelle deutlich nochmal genau die Problemlage benennt?
Harald Müller: Der Bundespräsident hat ja die Neigung, sich als den moralischen Lehrer Deutschlands zu präsentieren, wogegen es im Grunde auch nichts zu sagen gibt. Aber er ist dabei sehr selektiv. Und dieses Thema Waffenexporte, das nun wirklich auch eine moralische Dimension von hohen Graden hat, habe ich von ihm noch nicht kritisch angesprochen gehört. Und ich würde es sehr gerne hören.
Deutschlandradio Kultur: Er hat was anderes gesagt. Er hat gesagt, dass er den Einsatz militärischer Mittel als letztes Mittel nicht von vornherein verwerfen möchte. Wir hören vielleicht mal rein, wie er es im Wortlaut gesagt hat.
Bundespräsident Joachim Gauck spricht am 21.05.2014 in Hamburg im Schauspielhaus bei der Eröffungsfeier zum deutschen Stiftungstag 2014.
"Was sagt er denn bitte Neues?", fragt sich Harald in Bezug auf die Aussagen des Bundespräsidenten.© picture alliance / dpa / Axel Heimken
Einspieler Bundespräsident Joachim Gauck:
"In diesem Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen. So wie wir eine Polizei haben und nicht nur Richter und Lehrer, so brauchen wir international auch Kräfte, die Verbrechern oder Despoten, die gegen ihr eigenes Volk oder gegen ein anderes mörderisch vorgehen, zu stoppen.“
Herr Müller, was spricht denn gegen eine Politik des sich Einmischens statt des Wegsehens?
Harald Müller: Grundsätzlich gar nichts. Der Punkt ist nur: Was sagt er denn bitte damit Neues? Es kann doch wohl nicht sein, dass die 17 Einsätze der Bundeswehr, seit das begonnen hat in den frühen 90er-Jahren, spurlos an ihm vorüber gegangen sind. Die Bundeswehr tut das. Die deutsche Öffentlichkeit hat das auch gebilligt. Die neueste Umfrage der Körber-Stiftung zeigt, dass die deutsche Öffentlichkeit durchaus in den Gründen, die der Bundespräsident benennt, im Extremfall auch Gründe für den Einsatz der Bundeswehr sieht. Sie ist nur äußerst skeptisch, ob diese Gründe sehr oft vorliegen und ob, wenn sie vorliegen, der Einsatz sehr oft zweckmäßig sein wird.
Dieser Skeptizismus ist vollständig berechtigt. Denn auch die Eingriffe, die wohlmeinende Interventen tätigen, richten Schaden an. Und manchmal ist dieser Schaden größer als das Übel, was sie versuchen zu beseitigen.
Es gibt andere Methoden, Menschenrechte zu stützen, dazu zählt etwa die Aufnahme von Flüchtlingen, zu denen wir weitaus weniger hören vom Bundespräsidenten. Die Großzügigkeit bei der Aufnahme rettet im Zweifelsfall mehr Menschenleben als die meisten militärischen Interventionen.
Was mich stört an den Äußerungen des Bundespräsidenten ist, dass er so tut, als sei das neu und als bedürfe es in dieser Beziehung einer Belehrung des deutschen Volkes, das das alles längst weiß und dessen Skeptizismus nicht auf Wegsehen beruht, sondern auf Erfahrungen – nicht nur mit der eigenen deutschen Vergangenheit, sondern auch Erfahrungen mit wohlgemeinten humanitären Interventionen. Die sind nämlich sehr gemischt.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben es angesprochen: mehr Aufnahme von Flüchtlingen. Es gibt aber auch ein anderes Problem. Wir haben es vor wenigen Wochen erlebt, als ein 29-jähriger Franzose vier Menschen im jüdischen Museum in Brüssel getötet hat, nachdem er gerade von einem Einsatz für eine dschihadistische Gruppe in Syrien zurückkam.
Deshalb die Frage: Wie stark bedroht dieser Terror, den wir im Irak erleben, im Moment auch Europa, die europäischen Hauptstädte?
Kleine, gewaltbereite Minderheit unter muslimischen Immigranten
Harald Müller: Wir haben diese Bedrohungslage offensichtlich ja schon seit dem 11. September 2001. Es gibt natürlich unter jungen und frustrierten muslimischen Immigranten immer auch eine sehr kleine Minderheit, die gewaltbereit ist und die auch bereit ist, die eigene Größe und die eigene Perspektive darin zu sehen, dass sie sich als heldenhafte Dschihadisten gebärden und eine möglichst große Zahl von Ungläubigen mit in den Tod reißen.
Sie kämpfen auch in Syrien und Irak. Sie erhalten dort Ausbildung, Erfahrung im Umgang mit Waffen usw. Manche von ihnen kommen zurück. Und die bilden natürlich einen Gefahrenherd. Aber dagegen helfen keine humanitären Interventionen, sondern ordentliche Polizeiarbeit.
Deutschlandradio Kultur: Und Überwachung!
Harald Müller: Überwachung soweit sie für diesen Zweck notwendig ist. Ich meine damit, dass die Anlässe des 11. September und die daraus erwachsenden Gefahren natürlich dem unstillbaren Trieb unserer Sicherheitsorgane, sich bessere Mittel zu verschaffen, einen ordentlichen Schub gegeben haben. Aber man muss das immer mit Augenmaß sehen. Wir kennen die neuere Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung, die etwa diesem Mittel klare Grenzen setzt. Und wir müssen immer aufpassen, dass bei der Bewahrung der Sicherheit, die eine wichtige Aufgabe des Staates ist, und bei der Eindämmung der Risiken, nicht gleich die gesamten Bürgerfreiheiten über die Wupper gehen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Müller, einen Blick vor die eigene Haustüre müssten wir schon werfen. Ich spreche die Situation in der Ukraine an. Russische Separatisten schießen in der ukrainischen Stadt Lugansk ein Armeeflugzeug ab. 49 Soldaten kommen ums Leben. Zwei Tage später dreht Moskau der Ukraine das Gas ab. Und jetzt verkündet Außenminister Steinmeier, dass die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland doch Thema bei EU-Gipfel in der kommenden Woche sein könnte.
Droht auch hier eine Eskalationsspirale?
Harald Müller: Ich glaube das eher nicht, weil die Parteien im Umgang miteinander doch recht vorsichtig sind. Ich rate, was Sanktionen angeht, allerdings dazu, sehr genau drauf zu schauen, was man macht. Denn vieles von dem, was diskutiert wird, würde in erster Linie auch den Aufschwung der europäischen Wirtschaft betreffen. Die strategische Stärke Europas liegt in der größeren Attraktivität gegenüber dem russischen Modell. Dazu gehört, dass man diese Krise überwindet.
Insofern bin ich, was das Sanktionsinstrument angeht, etwas skeptisch. Aber ich meine, die beiden Seiten haben letzten Endes die Erfahrung des gesamten Kalten Krieges, in Krisensituationen, die es immer wieder gegeben hat, die Eskalation zu verhindern und einzudämmen.
Ich sage immer meinen jüngeren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sagen, dass jetzt für 30 Jahre Eiszeit ausbricht, dass es im ganzen Kalten Krieg kaum eine gravierendere Verdammung Moskaus gegeben hat als nach dem Einmarsch in Prag 1968. Ein Jahr später gab es die deutsche Ostpolitik und gab es Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion über strategische nukleare Rüstung. Das ging also dann doch ziemlich fix. Nachdem man sich kurz gründlich gestritten hatte, saß man dann am Tisch und es begann wirklich die Periode der Entspannungspolitik.
Ich rechne damit, dass – wenn die Verhältnisse klar sind, und das ist meiner Ansicht nach eine wichtige Bedingung, wenn die Verhältnisse klar sind – auch wieder miteinander gesprochen wird, und zwar vernünftig.
Deutschlandradio Kultur: Aber im Moment sprechen die Waffen. Warum ist es denn in den letzten 25 Jahren weder dem Westen noch Moskau gelungen, eine Sicherheitsarchitektur für den gesamten Kontinent aufzubauen? Die Zeit war doch da.
Harald Müller: Wir hatten 1991 letzten Endes zwei Möglichkeiten. Wir hatten die Möglichkeit zu sagen, wir machen wirklich was Gesamteuropäisches. Wir bauen die OSZE zu einer Art Europa-UNO aus und verzichten drauf, die westliche Allianz zu erweitern. Oder wir hatten die Möglichkeit zu sagen, nein, wir erweitern die Zone der Sicherheit, die wir schon haben, also Nato und EU, Schritt für Schritt nach Osten mit der nennenswerten Ausnahme Russlands. – Das war aber natürlich ein Weg, der de facto eine neue Spaltung Europas zur Folge haben musste.
Deutschlandradio Kultur: Hat da der Westen auch Fehler gemacht?
Die US-amerikanische und die NATO-Fahne wehen am Donnerstag (17.05.2012) im Stadtzentrum in Chicago. In der nordamerikanischen Stadt am Michigansee findet am 20. und 21.05.2012 der NATO-Gipfel statt.
Dass man mit der Nato-Osterweiterung Europa spaltet, habe man wissen müssen, so Harald Müller.© picture alliance / dpa / Peer Grimm
Harald Müller: Ob das ein Fehler war oder nicht, sollen die Historiker in 50 Jahren entscheiden. Es gab auch Gründe, die Nato zu erweitern, nicht zuletzt das Drängen der kleinen Länder in Mittel-Ost-Europa, in Ost-Europa, endgültige und dauerhafte Sicherheit zu haben. Und es war extrem schwer, sich dem zu verschließen. Das ist gar keine Frage. Nur hätte man mit offenen Augen wissen müssen, dass man damit Europa spaltet und dass man natürlich innerhalb Russlands den Aufstieg derjenigen begünstigt, die russischen Nationalismus und russische Größe vor sich her tragen.
Deutschlandradio Kultur: Aber welche Konsequenzen können wir heute daraus ziehen, wenn wir sagen, ja, das sind Fehler gewesen oder es sind Entwicklungen gewesen, die wir korrigieren möchten, wenn wir morgen weitermachen wollen mit Russland?
Sie sagen, keine Wirtschaftssanktionen, keine militärische Intervention, das will sowieso niemand, keine Spaltung Europas. Wir müssen einfach nochmal abwarten und lieber einhundert Stunden lang umsonst verhandeln als zwei Minuten zu schießen, wie Helmut Schmidt mal gesagt hat.
Harald Müller: Ich meine, schießen werden wir sowieso nicht. Selbst die größten antirussischen Militanten bei uns schrecken davor zurück, dass geschossen wird. Aber ich bin gar nicht so weich, wie Sie denken. Ich bin der Meinung, dass die Spaltung Europas nicht mehr abzuwenden ist. Die ist geschehen. Der Ukraine-Konflikt ist das Tüpfelchen auf’s i. Es hat begonnen mit der Erweiterung der Nato. Mit der Erweiterung der Nato haben wir Schritt für Schritt diejenigen in diesem Zwischen-Europa, die weder zu Russland noch zur Nato gehörten, genötigt, sich für eine Seite zu entscheiden.
Deutschlandradio Kultur: Aber wir könnten doch trotzdem sagen, wir nehmen den Gedanken von Michael Gorbatschow wieder auf und sagen, wir bauen jetzt dennoch ein gemeinsames Haus Europa. Das macht Sinn in dieser weltpolitischen Lage, über die wir auch gesprochen haben. Lasst uns eine neue Perspektive gemeinsam entwickeln.
Harald Müller: Ich weiß nicht, wo dafür die Atmosphäre, der politische Wille, die Stimmung, was auch immer herkommen sollte. Lassen Sie mich mal meinen Gedanken zu Ende führen.
Wir haben die Spaltung Europas betrieben, sicher unwillentlich, aber sehr effektiv. Und wir sind jetzt sozusagen in der letzten Phase dieser neuen Grenzziehung. Man muss für die Ukraine eine Lösung finden. Diese Lösung ist vermutlich, die Krim geht an Russland und der Rest bleibt Ukraine. Dazu bedarf es möglicherweise Volksabstimmungen, die international überwacht sind, in der Ost-Ukraine, die nach allem, was ich so sehe, pro-ukrainisch ausgehen werden. Und dann lässt man die Krim bei Moskau und nimmt die Ukraine in die Nato auf. Das klingt sehr militant, aber es schafft klare Verhältnisse.
Auf dieser Basis kann man dann wieder Entspannungspolitik mit Russland betreiben, unter anderem konventionelle Rüstungskontrolle, an der die Russen großes Interesse haben, um das Ungleichgewicht, was sowieso besteht, für sie abzumildern. Und man kann dann versuchen, das Verhältnis zu reparieren.
Deutschlandradio Kultur: Ist das nicht ein bisschen naiv. Die Krim gehört sowieso schon zu Russland – annektiert – und Putin wird es auf keinen Fall zulassen, dass die Ukraine sich noch stärker dem Westen annähert und sich dann auch der Nato möglicherweise noch annähert. Das wird er doch nicht machen. Der träumt von was ganz anderem.
Harald Müller: Ich sehe nicht, dass Russland in der Ukraine einmarschiert, weil die Eskalationsrisiken dann wirklich sehr groß sind. Russland wird sich im Endeffekt darin finden, dass auch die Ost-Ukraine bei Kiew bleibt. Und dann ist die Frage: Wozu gehört die Ukraine? In meinen Augen ist es für die zukünftige Gestaltung des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen, der EU und der Nato, am pazifizierendsten, wenn die Verhältnisse ganz klar sind. – Kein Machtvakuum, keine grauen Zonen!
Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass sich diese Überlegung durchsetzen wird. Ich fürchte, wir werden eine ganze Weile mit einer Grauzone leben, die uns Instabilitäten beschert, deren Eskalationsrisiken aber letzten Endes von den beiden Seiten eingehegt werden.
Deutschlandradio Kultur: Lässt sich das mit Wladimir Putin machen? Man hätte ja auch den Verdacht äußern können, dass er sich im Moment gebärdet wie ein russischer Zar, der dem Westen endlich mal die Stirn bieten möchte. Er sagt: Demokratie und Liberalismus, davon hält er gar nichts, sondern man braucht Machtstrukturen, die was ganz anderes sind als das, was die Europäische Union verkörpert.
Plädoyer für die Rückkehr zur alten Entspannungspolitik
Harald Müller: Das ist so. Russland ist eine Autokratie, ein etwas milderer Typ als es die Sowjetunion war. Aber wir haben auch mit der Sowjetunion Geschäfte gemacht und wir haben auch mit der Sowjetunion Entspannungspolitik betrieben. Und wir können das auch mit einem Putin-Russland machen – bis zu der Zeit, wo die Russen selber ein anderes System wollen. Deswegen ist mein Plädoyer der Rückkehr zur alten Entspannungspolitik, wenn man mal klare Verhältnisse geschafft hat, weil das der Umweg ist, auf dem allenfalls in Zukunft wieder eine Aufweichung der russischen Autokratie geschehen kann.
Deutschlandradio Kultur: Also, dass diese Vorstellung einer liberalen Weltordnung stärker sein wird als das, was wir im Moment erleben, nämlich mit Machtpolitik Grenzen abzusichern oder gar zu erweitern?
Harald Müller: Wenn man mal genau hinschaut, was die Leistungsfähigkeit der unterschiedlichen Systeme ist, dann hat sich an den Verhältnissen aus dem Kalten Krieg wenig geändert. Man kann nicht verkennen, dass in China und schon gar in Russland enorme Hemmnisse einer vernünftigen wirtschaftlichen Entwicklung da sind. Wenn Leute Eigentum erwerben, wollen sie Rechtssicherheit haben. Ohne Rechtssicherheit gibt es Wachstumshemmnisse und Innovationshemmnisse, die riesig sind. Also, man kann mit gutem Selbstbewusstsein, und das tue ich, von der Überlegenheit des eigenen Systems – bei all seinen Schwächen – ausgehen.
Deutschlandradio Kultur: Also, Sie wagen die Prognose, dass nach wie vor die Ordnungsmacht Amerika bleiben wird und dass Russland oder China nicht demnächst versucht, sich stärkere Vorteile zu verschaffen?
Harald Müller: Ja natürlich werden die das versuchen. Wovon ich gesprochen habe, ist die langfristige Attraktivität, Überlegenheit und Durchsetzungsfähigkeit der liberalen Ordnung. Aber das sind ganz lange Wege. Und eines unserer großen Probleme ist, dass wir immer wünschen, dass das, was wir wollen, zu unseren Lebzeiten passiert, möglichst noch in der gegenwärtigen Wahlperiode. – So läuft aber Geschichte nicht.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, wir müssen geduldig sein.
Harald Müller: Wir müssen geduldig sein, denn Time is on our side. Letzten Endes zeigt sich seit der amerikanischen Revolution, dass die Zahl der Demokratien schrittweise, manchmal in Form der Springprozession – drei vor, eins zurück – wächst und wächst und wächst.
Deutschlandradio Kultur: Dann nehme ich das als Schlusswort: Time is on our side. Herr Müller, vielen Dank für das Gespräch.
Harald Müller: War mir ein Vergnügen.
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