Ausnahmezustand

Mit aller Gewalt krempelt Erdoğan die Türkei um

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht in Istanbul zu Anhängern.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht in Istanbul zu Anhängern. © dpa-Bildfunk / TURKISH PRESIDENTAL PRESS OFFICE
Von Baha Güngör · 23.07.2016
Nach der Verkündung des Ausnahmezustandes in der Türkei hat Staatspräsident Erdoğan neue Festnahmen angekündigt: Man sei "noch nicht am Ende". Die Türkei droht in den Abgrund zu stürzen, meint Baha Güngör, langjähriger Leiter der türkischen Redaktion der Deutschen Welle.
Ist die Türkei für den Westen verloren? Wohin steuert das Land, das seit sechs Jahrzehnten NATO-Mitglied ist? Welchen Sinn haben noch Beitrittsverhandlungen mit dem Ziel eines EU-Beitritts? Fragen über Fragen beschäftigen europäische Regierungen und die USA seit dem Putschversuch vor einer Woche mit dramatischen Folgen für die Vertrauenswürdigkeit der Türkei.
Ein Patentrezept für den künftigen Umgang mit einem Land, dessen demokratische Strukturen auseinanderbröckeln, ist nicht in Sicht. Wildeste Spekulationen über die Hintergründe der Ereignisse seit einer Woche, Rufe nach Strafmaßnahmen beherrschen die Diskussionen. In Frage gestellt wird sogar die Zugehörigkeit der Türkei zum westlichen Verteidigungsbündnis, das sich auch als Wächter über universelle Werte wie Demokratie und Menschenrechte definiert.
Fakt ist, es gibt eine "neue Türkei", die Recep Tayyip Erdoğan seit vielen Jahren formt. In dieser neuen Türkei hat Erdogan die in der Verfassung vorgeschriebene innenpolitische Neutralitätspflicht eines Präsidenten über Bord geworfen. Inzwischen ist er Alleinherrscher nicht nur über seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP.

Erdoğan lenkt nach eigenen Zielvorstellungen

Er lenkt inzwischen nahezu ungehindert die Geschicke des Parlaments nach eigenen Zielvorstellungen. Die Gewaltenteilung als Fundament der pluralistischen Demokratie verkümmert unter Erdoğans Herrschaft zu einer Einbahnstraße für dessen Projekte zur Festigung seiner Macht.
Dennoch gibt es keinen einzigen Grund, dem Scheitern des Putschversuchs der Armee nachzuweinen. Dass die eigene Hauptstadt Ankara von Hubschraubern und Kampfjets bombardiert worden ist, ist beispiellos in der Geschichte der 93 Jahre alten Republik, in der die Militärs bereits viermal die Macht an sich gerissen hatten, um die Demokratie nach ihren Vorstellungen neu zu ordnen.

Nur eine Zwischenstufe

Der massive und furchtlose Widerstand der Bevölkerung gegen die Soldaten ist einerseits bewundernswert. Andererseits entsteht aus der Ablehnung eines Militärputsches keine automatische Gewähr für die sichere Existenz der Demokratie.
Der von Erdoğan mit Hilfe des Nationalen Sicherheitsrates und des Kabinetts durchgesetzte Ausnahmezustand sollte deshalb nur dann gewertet werden, wenn feststeht, ob er dem Schutz der Demokratie oder ihrer weiteren Schwächung im Sinne Erdoğans gedient hat.
Zu befürchten bleibt, dass die Aussetzung von demokratischen Grundfreiheiten und Dekrete mit Gesetzeskraft nur eine weitere Zwischenstufe ist, Erdoğans Traum von einer Präsidialrepublik mit ihm als stärksten Herrscher der Türkei seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk wahr werden zu lassen.

Keine voreiligen Sanktionen

Die USA und die EU straucheln angesichts der Entwicklungen in der Türkei und ringen um angemessene, vernünftige Reaktionen. Allen voran von Deutschland als wichtigster Partner der Türkei, basierend auf traditionell guten Beziehungen, wird eine klare Kante erwartet. Doch mehr als eine kategorische Ablehnung der von Erdoğan geplanten Todesstrafe mit der Androhung der Unterbrechung von EU-Beitrittsverhandlungen war bislang nicht möglich.
Die von Regierungs- und Oppositionspolitikern verlangen Strafmaßnahmen sind nicht durchdacht. Die Gefahr, dass mit voreiligen Sanktionen die Falschen getroffen werden, ist groß.
Die Anhänger der Demokratie, die Andersdenkenden, regimekritische Journalisten und die Intelligenzija wären auf sich alleine gestellt, wenn sich Europa von der Türkei abwendet. Das würde Erdoğan neue Trumpfkarten bei seinen Bemühungen um neue abenteuerliche Alternativen bescheren. Die Demokratie befindet sich in der Türkei in großer Gefahr. Die in sich gespaltene Opposition, die zusammen die anderen 50 Prozent der Bevölkerung repräsentiert, die Erdogan nicht gewählt haben, ist zu schwach, um Erdogan parlamentarisch zu kontrollieren.
Somit bleibt den Gegnern Erdoğans im In- und Ausland nur noch die Geduld als Ausweg, um auf kapitale Fehler Erdoğans zu warten. Auch Erdoğan wird in dem Glauben, unfehlbar zu sein, Fehler machen – wie so viele Alleinherrscher vor ihm auch gemacht haben. Die Türkei ist ab jetzt eine Geduldsprobe für Europa.
Baha Güngör, 1950 in Istanbul geboren, war bis zu seiner Pensionierung im vergangenen Jahr viele Jahre Leiter der türkischen Redaktion der Deutschen Welle. Seither arbeitet er als freier Journalist für diverse Rundfunk und Fernsehsender.
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