Auslosen statt Abstimmen

Schaden Wahlen der Demokratie?

Eine Hand greift in einen Eimer voller Lose.
Die Vorteile müssten der ausgelosten Räte mit der Verbindlichkeit der gewählten Parlamente in einer dritten Kammer zusammengeführt werden, fordert Reybrouck. © imago/Döhrn
Von Christian Rabhansl · 30.07.2016
Wenn die westlichen Demokratien weitermachen wie bisher, schaffen sie sich selbst ab: Der belgische Historiker David Van Reybrouck warnt in seinem neuen Buch vor einem politischen "Weiter so". Sein zentraler Verbesserungsvorschlag ist indes überraschend: Statt Wahlen abzuhalten sollen wir künftig Lose ziehen.
Es ist David Van Reybrouck völlig ernst: Wahlen seien wie der fossile Brennstoff der Politik. Sie hätten historisch zunächst einen enormen Antrieb und Aufstieg der Demokratie ermöglicht – inzwischen zeige sich aber, dass sie neue kolossale Probleme verursachten. Auf dem Cover des dünnen Buches steht also ganz fett: "Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist". Und genauso radikal beginnt der Essay des Belgiers. Wir alle seien "Wahlfundamentalisten". Er schreibt: "Wir verachten die Gewählten, aber vergöttern die Wahlen." Und weckt im Verlauf des Buches durchaus Zweifel, ob Wahlen wirklich in jeder Situation zwingend das zentrale und beste Instrument sind, um Demokratie zu garantieren.
Es stimmt ja - in den jungen Demokratien Osteuropas hat sich vielfach Ernüchterung breit gemacht. Auf den Arabischen Frühling folgte kein Demokratischer Sommer – auch in jenen Ländern nicht, in denen tatsächlich plötzlich gewählt wurde. Aber waren es wirklich die Wahlen, die dort geschadet haben? Was ist mit Gewalt und Korruption und wirtschaftlichem Niedergang?

Das alte Athen als Vorbild

Reybroucks Argumente wirken mitunter gemogelt, gerade wenn er die Geschichte bemüht. Sicherlich: Im Athen des fünften Jahrhunderts vor unserer Zeit kam die Demokratie weitgehend ohne Wahlen auf die Welt. Die Ratsmitglieder wurden ausgelost, die meisten Magistrate auch, und die Volksgerichte sogar jeden Tag aufs Neue. Aber warum sollte das heute ein Vorbild sein? Reybrouck käme niemals auf die Idee, den heutigen Frauen ihre politische Teilhabe nehmen zu wollen unter Verweis auf das damalige Athen. Die Idee des Losverfahrens aber hat es ihm angetan.
Doch während sein Essay im Titel und in den ersten Kapiteln noch recht radikal daherkommt, kippt er im Verlauf ins Milde. Ganz so, als bekäme Reybrouck allmählich Angst vor der eigenen Courage. Und so wird aus der Forderung, Wahlen durch Losverfahren zu ersetzen die kompromissbereite Forderung nach einem dualen System aus Wahlen und Losverfahren. Und der etwas kleinlaute Satz: Vielleicht werde dieses duale System ja eines Tages einem vollständig ausgelosten System weichen müssen, Demokratie sei schließlich nie fertig.
Cover von David Van Reybrouck: "Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist"
Cover von David Van Reybrouck: "Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist"© Wallstein Verlag
Erst einmal will Reybrouck aber (und steht damit nicht alleine da) eine neue, zusätzliche Kammer etablieren, deren Mitglieder ausgelost werden. Viele Länder experimentieren seit geraumer Zeit mit Bürgerversammlungen, mit Conventions, mit Zukunftsräten. Und die Erfahrungen – das beschreibt nicht nur Reybrouck, das sagen viele Politikwissenschaftler, die solche Projekte beobachten und begleiten – die Erfahrungen sind meist sehr gut.

Forderung nach einer dritten Kammer

Die Bürger werden wie in Stichproben aus den verschiedensten Bevölkerungsgruppen ausgelost, um ein breites Spektrum abzubilden. Sie nehmen ihre Aufgabe meist sehr ernst, arbeiten sich gründlich ein, erarbeiten differenzierte, ausgewogene Ideen. Das Problem: weil sie ausgelost sind, gelten sie als nicht legitimiert, also wird anschließend per Referendum über ihren Vorschlag abgestimmt. Und da passiert dann oft, was Reybrouck mit der Redensart "If you don’t know, say no" zusammenfasst: Die kluge Arbeit der Bürgergremien landet durch eine Augenblicksentscheidung der Masse im Papierkorb.
Deshalb, fordert Reybrouck, müssten die Vorteile der ausgelosten Räte mit der Verbindlichkeit der gewählten Parlamente zusammengeführt werden: in einer neuen, dritten Kammer. Und dafür spricht einiges: Die Tatsache, dass die Bevölkerung wesentlich breiter beteiligt wäre. Die guten internationalen Erfahrungen mit ausgelosten Gremien. Dass sie keine Zeit für Parteiarbeit und Wahlkampf bräuchten und deshalb mehr Zeit für die inhaltliche Arbeit hätten. Der Plan, den ausgelosten Laien (genauso wie bisher schon den gewählten Parlamentarier) wissenschaftliche Mitarbeiter an die Seite zu stellen. Und schließlich die Frage: Warum nehmen wir den Einfluss von Think Tanks und Lobbyisten hin, erschrecken aber bei dem Gedanken, dass ganz normale Bürgern mitsprechen?
Und so stellt man sich am Ende dieses Essays tatsächlich die Frage, mit der Reybrouck sein Fazit überschreibt: "Worauf warten wir?"

David Van Reybrouck: Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist
Wallstein Verlag, Göttingen 2016
200 Seiten, 17,90 Euro, auch ebook

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