Ausbruchversuch aus provinzieller Lethargie

Von Bernhard Doppler · 29.07.2007
Peter Tschaikowskis "Eugen Onegin" am Eröffnungswochenende der Salzburger Festspiele: In der Inszenierung von Andrea Breth ist die Oper einer jener Gesellschaftsdramen über eine ihre Langeweile kultivierende, von Utopien bisweilen träumende, perspektivelose Gesellschaft - und die man in ihren Beschreibungen von Seelenzuständen auch nach gut hundert Jahren sehr aktuell findet.
Am berühmtesten die lange nächtliche Briefszene, Mittelpunkt von Tschaikowskis Oper. Tatjana schreibt zwar in Salzburg 2007 diesen Brief an den Dichter Onegin nicht auf einem modernen PC, sie schreibt ihn aber auch nicht wie üblich altmodisch mit der Feder, sie tippt ihn in eine Schreibmaschine! Ist Tatjana "zeitgemäß"?

Tatjana ist wohl selbst auch eine Schriftstellerin, unerkannt fernab in der Provinz, eine, die sich mit dem Schreiben über ihre Gefühle klar werden kann und damit aus dem Rahmen ihrer trostlosen Umgebung fällt, eine auch, die sogar die Initiative zu ergreifen versteht und in dieser Überlegenheit den Dichter und Lebemann Onegin tief verunsichert.

In der Inszenierung von Andrea Breth, der Schauspielregisseurin und Oberspielleiterin des Wiener Burgtheaters, ist Tschaikowskis Oper einer jener Gesellschaftsdramen über eine ihre Langeweile kultivierende, von Utopien bisweilen träumende, perspektivelose Gesellschaft, wie man sie auch in den von ihr oft inszenierten Schauspielen Ibsens, Tschechows und Schnitzlers findet - und die man in ihren Beschreibungen von Seelenzuständen auch nach gut hundert Jahren sehr aktuell findet:

Eugen Onegin ist der Ausbruchversuch aus provinzieller Lethargie bei vier jungen Leuten, Tatjana, Olga, Onegin, Larin, und deren Scheitern. Natürlich kann man da einwenden, Andrea Breths "Eugen Onegin" 2007 sei eine Übertragung der Berliner-Schaubühnen-Themen und der Berliner-Schaubühnen-Ästhetik der 90er Jahre auf die Oper, also nichts Neues. Aber ist das wirklich ein Argument?

In den gewaltigen Breitwanddimensionen des Salzburger "Großen Festspielhauses" ist Andrea Breth jedenfalls souverän zu Hause, eine Meisterin simultaner, sich verzahnender Spielebenen. Kornfelder und Wald, große Bankettzimmer und kleine Nebenräume werden immer wieder auf der Drehbühne bewegt und verschieben schnell die Perspektiven des Zuschauers. (Bühne: Martin Zehetgruber).

Vom Glamour russischen Landadels aus Puschkins Zeiten ist nichts geblieben, es ist das Sowjetrussland der 60-er Jahre in der Provinz. Man trägt Kittelschürzen. Statt bäuerlicher Leibeigenen auf den Feldern sieht man, wie an Nähmaschinen in der Fabrik geschuftet wird; auch tanzen will bei der berühmten Polonaise niemand so richtig, man fläzt sich lieber mit der Wodkaflasche auf einem der vielen Club-Stühle.

Am Parkettboden haben sich in diesem Provinzsumpf schon viele Pfützen gebildet. Das ist alles sehr detailfroh und oft auch komisch. Vor allem sind die Sänger psychologisch sehr genau; selbst in Nebenrollen (etwa Ryland Davies als Triquet) führen sie komödiantische Bravourstückchen vor.

Salzburg muss dieses Jahr ohne Netrebko-Rummel leben, und so hat man versucht, Anna Samuil als Tatjana als Ersatz ein wenig als Star aufzubauen. Nicht ganz zu unrecht. Doch Anna Samuil überzeugt leise, in ihrer unaufdringlichen, aber nachdrücklichen Souveränität, ein stilles Selbstbewusstsein von großer Stärke – eindringlich im Pianissimo, aber auch in ihren klaren Ausbrüchen; Joseph Kaiser ergreift wiederum als Lenski in seinem weichen lyrischen Verzicht, wenn bei ihm die provinzielle Banalität und Blödigkeit plötzlich in existentiellen Ernst umkippt – und schließlich: Peter Mattei in der Titelrolle.

Auch bei ihm sind Gesang und Darstellung eindrucksvoll verknüpft; sein Onegin ein Playboy sicherlich – und doch versteht man auch, warum gerade ihn Tatjana so sehr liebt. Unterstützung finden die Sänger bei den Wiener Philharmonikern unter Daniel Barenboim; ein weicher, oft melancholischer Klang bestimmt Tschaikowskis "lyrische Szenen", wie er seine Oper genannt hat; hin und wieder werden Effekte ausgebadet, ein paar Nuancen entlockt, mit Pathos geendet. Ein großer, aufwendiger Festspielabend jedenfalls: Ein Gesang und ein Abgesang von Jugend.