Aus eigener Kraft aus der Katastrophe geholt

Jeanine Meerapfel im Gespräch mit Waltraud Tschirner · 28.10.2012
"Ich liebe diese Deutschen", sagt Jeanine Meerapfel – die in Buenos Aires geborene Regisseurin traf "Männer, die sich selber schlecht behandelten, um irgendeine Schuld abzutragen". Der Protagonist ihres Films "Der deutsche Freund" tickt ganz ähnlich.
Waltraud Tschirner: Sie sind 1943 als Kind jüdischer Einwanderer in Buenos Aires geboren. Haben Sie es eigentlich selbst so erlebt, dass dort in unmittelbarer Nähe der jüdischen Flüchtlinge reiche Nazis lebten?

Jeanine Meerapfel: Ja. Ich habe mitgekriegt, dass die Häuser der Deutschen, nicht unbedingt jetzt Nazis, der Deutschen, und die Häuser der deutschen Juden meistens immer in den gleichen Orten waren. Zum Beispiel gegenüber dem Haus meines Vaters gab es das Haus von einer deutschen Familie. Die waren zwar schon in der dritten Generation da, aber in diesem Haus habe ich viele Kinder von deutschen Nazis kennengelernt. Das war schon sehr merkwürdig, weil meine Eltern haben die Eltern von meiner Freundin Monika aus diesem anderen Haus nicht begrüßt, und es war eine große Distanz. Obwohl beide Gemeinden natürlich deutsch sprachen, haben sie unterschiedliche Klubs gehabt, unterschiedliche Schulen gehabt, unterschiedliche Orte, wo sie hingegangen sind. Abgesehen davon, dass die Juden natürlich in den Tempel, in die Synagoge gegangen sind und die Deutschen in ihre Kirchen.

Tschirner: Aber wie haben Sie das als Kind, als Jugendliche empfunden? Also Ihre Freundin Monika, die war Ihnen ja sehr nahe. Haben Sie diese Distanz gespürt oder jetzt erst im Nachhinein gemerkt, was da los war?

Meerapfel: Viel, viel später verstanden. Auch sie hat viel später verstanden, weil zu der Zeit, wo wir gemeinsam da aufgewachsen sind, waren wir 12, 13, 14 Jahre alt und ich fand das sehr aufregend bei denen. Und insofern war das also eine gegenseitige Attraktion, weil wir unterschiedlich waren.

Tschirner: Hat das Ganze deshalb so "gut" funktioniert, weil eigentlich auf beiden Seiten Schweigen verordnet war?

Meerapfel: Vielleicht. Das war sehr merkwürdig, dass wir Kinder nichts erfuhren. Ich habe erst 1979 oder 1980, als ich meinen ersten Spielfilm machen wollte, "Malou", meinen Vater gebeten, sich mit mir hinzusetzen und ihn befragt: Was war denn in Deutschland? Wie seid ihr rausgekommen, was ist da passiert? Die haben nie darüber geredet. Das ist schon sehr merkwürdig. Ich wusste, dass ich jüdisch bin, und ich wusste, dass ich jüdisch bin, weil in bestimmten Situationen es wirklich Antisemitismus in Argentinien gab …

Tschirner: Das haben Sie richtig zu spüren bekommen?

Meerapfel: Ja. Ja, einige Szenen, die sieben Filmszenen sind auch – basieren, die sind nicht genau so, haben sich nicht so abgespielt, aber sie basieren auf Dingen, die wir erlebt haben.

Tschirner: In der anderen Familie im Film, also diese Nazi-Familie, aus der Friedrich stammt, da gibt es dann einen ganz radikalen, jähen Bruch. Friedrich hat herausgefunden, dass sein Vater ein ganz großer Nazi war und was er auch für Verbrechen verübt hat. Und von da an ist Friedrich radikal. Er will etwas wiedergutmachen, er möchte den Kampf für das vermeintlich oder wirklich Richtige tun, und es ist, als ob der in diesem Moment auch beschließt: Privatleben darf ich nicht führen, ich muss für eine Sache leben. Haben Sie bei Jugendlichen, mit denen Sie aufgewachsen sind, das auch so deutlich gespürt, wie das in diesem Film von Ihnen dargestellt wird?

Meerapfel: Diese Verhärtung, die der Friedrich hat, oder diese Radikalität, die habe ich in Deutschland erlebt, bei den Männern insbesondere meiner Generation, 1968. Ich traf junge Männer, die alle ihren deutschen Pass versteckt haben. Weil sie sich schämten, deutsch zu sein. Ich traf deutsche Männer, die tatsächlich ihre Eltern gehasst haben für das, was sie getan haben. Und ich traf Männer, die sich selber schlecht behandelten, um irgendeine Schuld abzutragen, die sie eigentlich nicht hatten. Das hat mich damals sehr bewegt, weil ich war verliebt in einen deutschen Mann, hier in Deutschland, und der konnte sich selbst kaum lieben. Und das ist etwas, was ich noch nie erlebt hatte. Und so habe ich dem Friedrich das gegeben, dass der sich so verhärtet, dass er so einen Hass gegen sich selber entwickelt.

Tschirner: Das Interessante ist ja, dass Sulamith, die Frau im Film, die sicherlich eine Menge auch mit Ihnen zu tun hat, ganz anders ist. Und sie ist irgendwann ziemlich schnell. Sie kommt nach Frankfurt mit einem Stipendium und will natürlich mit Friedrich zusammenleben, ein Leben aufbauen. Und man merkt in der ersten Szene, er hat keine Zeit für sie, er muss seiner Sache dienen und den Kampf leben. Und sie ist sehr empört darüber. Gleichwohl wird sie ihn nicht los. Friedrich ist immer in ihr drin, sie versucht, mit einem anderen Mann ein Leben zu leben, aber Friedrich hat sozusagen die stärkere Anziehungskraft. Und letzten Endes lebt sie damit eigentlich so ein Leben in der Warteschleife. Ist das nicht unendlich traurig?

Meerapfel: Kann man sagen. Man kann aber auch sagen, das ist unendlich nachvollziehbar. Denn sie ist eine, die entschieden hat, das ist der Mann meines Lebens, den lieb' ich, den will ich. Das ist eine unbedingte Liebe. Und in einer unbedingten Liebe fragt man sich gar nichts mehr, sondern man geht der nach. Es ist auch ihre Mission. Sie will, dass er sich öffnet. Sie will, dass er versteht. Der Sohn eines Nazis ist nicht ein Nazi. So. Und deshalb bleibt sie hinterher.

Tschirner: Wirklich mit erstaunlich viel Langmut. Und auf der anderen Seite Friedrich, den erlebt man immer wieder, als er in Patagonien im Gefängnis sitzt, dass er nicht etwa, wenn sie ihn besucht, nach vielen Stunden und Tagen, muss man sagen, Unterwegssein, dass er nicht etwa sagt: Mein Gott, wenn ich hier rauskomme, dann leben wir aber endlich miteinander. Sondern er sagt: Wenn er rauskommt, dann wird er den Mapuche-Indianern zu ihrem Recht verhelfen. Und da gibt es für mich eine sehr witzige Szene. Er kommt dann nämlich ja zum Glück tatsächlich irgendwann raus, springt im Gebiet der Mapuche-Indianer vom Lastwagen und sagt dem erstbesten Mann: Ich möchte euch helfen, eure Territorien wiederzukriegen, und der guckt ihn ein bisschen erstaunt an und sagt, wir bringen hier gerade die Kartoffeln aus. Das könnte die Brücke gewesen sein, um Friedrich ins normale, buchstäblich geerdete Leben zurückzuholen.

Meerapfel: Absolut. Und es ist natürlich auch sehr ironisch gemeint. Weil der ist bescheuert einfach. Der ist verhärtet und bescheuert, und er nimmt sich Sachen vor, die kein Mensch will. Natürlich ist der Kampf der Mapuche ein sehr wichtiger Kampf, noch heute, aber was Friedrich anbetrifft, der muss endlich mal kapieren, auf dieser Erde zu leben und nicht nur in seinen Phantomen.

Tschirner: Der Film ist ja tatsächlich so eine Mischung aus Geschichte, der großen Weltgeschichte, und der privaten, ewig nicht gelebt werden könnenden Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen. Und da stellt sich schon die Frage, wie viel ist am Ende an so einem Lebensverlauf selbstgemacht, und wie viel hat das Schicksal und hat die Geschichte, haben die Umstände mitgespielt. Also das ist wirklich ein Film, der, glaube ich, Leute zum Nachdenken anregt. Ich nehme mal an, er hat einerseits, das wissen wir, mit Ihrem Leben zu tun, aber es ist auch viel von Ihren Lebenserkenntnissen eingeflossen. Haben Sie lange, lange, lange daran gearbeitet?

Meerapfel: Ja, ich habe lange recherchiert, ich habe lange dran gearbeitet. Das ist die Geschichte, die meine Generation erlebt hat. Wenn Sie sich allein denken, was da alles passiert ist in dieser Zeit, in dieser Nachkriegszeit, nicht wahr. Und ich glaube, dass man sich da in verschiedener Weise wiederfinden kann. Also nicht nur die Menschen meiner Generation, die 68er, sondern auch andere, weil es steht ja auch paradigmatisch für etwas. Es könnte auch eine Palästinenserin sein und ein Israeli. Das heißt, es geht darum, wie geht man mit den Geistern der Vergangenheit um, wie geht man mit dem, was die Eltern uns mitgegeben haben, um?

Tschirner: Bei Friedrich kann man sich vorstellen, dass er irgendwann mal am Ende seiner Tage den Mann im Spiegel fragt: Sag mal, hättest du vielleicht irgendwann mal lieber mit der Frau, die du liebst, die dich so lange geliebt hat, Kinder zeugen sollen und dafür sorgen, dass sie anständige Menschen werden, statt immer einer Sache zu dienen? Haben Sie im Rahmen dieses Filmemachens Ihre zentralen Lebensfragen gültig beantworten können, oder stellen die sich eigentlich immer wieder neu?

Meerapfel: Ich denke, die stellen sich immer wieder neu, jeden Tag. Aber ich liebe diese Figur von Friedrich, ich liebe diese Deutschen. Weil sie wirklich sich aus eigener Kraft aus der Katastrophe ihrer Geschichte sich geholt haben. Und aus eigener Kraft sich selber wieder entdeckt haben. Ich habe eine große Sympathie für sie. Und das, glaube ich, merkt man.

Tschirner: Wann haben Sie diese Erkenntnis gewonnen? Da gab es doch sicherlich, als sie angefangen haben, sich mit Ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und die Fakten zusammengebracht haben, auch erst mal so etwas wie Wut und Zorn?

Meerapfel: Ja, das hat sehr lange gedauert. Das hat sehr lange gedauert, bis ich überhaupt verstanden habe, was los ist. Ich musste erst mal in Ulm studieren. Und in Ulm hat man mir beigebracht, zu denken und Geschichte zu verstehen. Das war sehr wichtig. Nicht nur Film. Ich hatte das Glück, Alexander Kluge und Edgar Reitz als meine Eltern – als meine Eltern … wunderbarer Freud’scher Fehler! – als meine Lehrer zu haben, und das hat eine lange Zeit gebraucht, bis ich das gemerkt habe. Und erst, als ich mich in Wolf Donner verliebte und an Wolf alle diese Wunden gesehen habe von einem Nazi-Vater bis hin zu der ganzen Geschichte, da habe ich angefangen zu verstehen, was es bedeutet. Und ich habe verstanden auch, wie diese Deutschen, diese jungen Deutschen dieses Deutschland verändert haben. Diesem Deutschland ein anderes Gesicht gegeben haben.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Rezension "Der deutsche Freund" von Anke Leweke
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