Aus den Feuilletons - Wochenrückblick

Medial-semiotisches Kuddelmuddel

Der griechische Finanzminister Gianis Varoufakis vor einer griechischen Fahne, aufgenommen am 27.01.2015 in Athen.
Der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, aufgenommen im Januar 2015 in Athen © dpa / picture alliance / Yannis Kolesidis
Von Arno Orzessek  · 21.03.2015
Kino, Theater oder Literatur gingen in der vergangenen Woche unter in den Feuilletons. Denn die Debatten kreisten um einen griechischen Finanzminister - und darum, was die Medien aus dem Syriza-Politiker Yanis Varoufakis machen.
Es war die Woche, in der ein Finger tief in die Feuilletons eindrang.
Und zwar der Mittelfinger der linken Hand des griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis, zugleich Polit-Rockstar, Peleponnes-Robin Hood und Nemesis aller Spar-Freunde in der EU.
Varoufakis hatte seinen Finger im Jahr 2013 gereckt – und dabei betont, die Griechen hätten selbiges Körperteil Deutschland schon 2010 zeigen sollen. Neuerlich zu sehen war die Geste als Einspieler im TV-Talk von Günther Jauch am vergangenen Sonntagabend.
"Eines ist allerdings klar [behauptete der Philosoph Srecko Horvat in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG]: Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa wurde der Mittelfinger gezeigt, wenn wir es nicht mehr schaffen, eine ernsthafte und erwachsene Debatte über die europäische Krise zu führen. Dieser Mittelfinger ist das wahre Symbol für die Krise Europas."
Überschrieben war der SZ-Artikel mit einer pfiffigen Variation der Redewendung ‚über Leichen gehen‘ – sie lautete:
"Über Zeichen gehen."
Dann unkte der Fernseh-Komiker Jan Böhmermann in ZDF neo, er habe Varoufakis‘ Stinkefinger ruchlos in den Film hineingefälscht. Varoufakis selbst nahm die Böhmermann-Satire sofort für wahre Münze und widmete sie zum Freispruch in eigener Sache um.
Und plötzlich war da ein medial-semiotisches Kuddelmuddel, wie es feuilletonistische Zeichendeuter lieben.
"Was ist Wahrheit?"
fragte die Tageszeitung DIE WELT auf einer Stinkefinger-Sonderseite, erhob die kurzfristig unklaren Zusammenhänge zum "Fake-Gate" und erklärte:
"Böhmermann […] hat einen Coup gelandet, der so wirkt, als habe ihn sich der […] französische Theoretiker Jean Baudrillard ausgedacht. Der war […] noch in den Neunzigerjahren dafür zuständig, die postmoderne Welt als riesige Simulationsmaschine zu demaskieren. 'Die Unterstellung, dass das Video ein von uns manipulierter Fake-Fake-Fake-Fake-Fake sei, ist absolut haltlos', sagt Böhmermann im Tonfall eines durchgeknallten Propagandavideos, und wer will, der kann jetzt die Metaebenen durchzählen, auf die er im Nebensatz hochkletterte wie der Held eines Computerspiels",
bemerkte der WELT-Autor Andreas Rosenfelder.
Wir zählen hier keine Metaebenen – wir kommen auf Varoufakis zurück.
In der Wochenzeitung DIE ZEIT untersuchte Hanno Rauterberg die Foto-Serie der französischen Zeitschrift Paris Match, die Varoufakis mit muskulösem Oberarm am Klavier, auf blumiger Dachterrasse, vor gut gefüllter Bücherwand und so weiter zeigte.
"Tatsächlich [so Rauterberg] ist der griechische Minister ein Meister darin, aus demonstrativer Bescheidenheit einen Ausdruck unerschütterlicher Stärke zu machen. […] Nicht zuletzt […] [die] Ungezwungenheit lässt […] Varoufakis in aller Welt so attraktiv erscheinen: Er vermag das Undenkbare zu denken, das Unrettbare zu retten. Und doch wirkt alles wie ein Spiel, aus dem er sich jederzeit in ein Leben als Privatmann und Forscher zurückziehen kann. Varoufakis zeigt sich als Herrscher, der so kontrolliert ist, dass er auf alle üblichen Kostüme und Gesten der Kontrolle verzichten kann."
Ob das stimmt, was sich Hanno Rauterberg da zusammendeutete … Das würden wir gern einmal Wolfgang Schäuble fragen.
Am lustigsten reagierte übrigens die TAGESZEITUNG auf die Finger-Causa.
Sie übermalte auf ihrer Titelseite den Frankfurter Neubau der Europäischen Zentralbank mit den Umrissen des inkriminierten Fingers und lästerte:
"Europa zeigt Varoufakis den Stinkefinger."
Die FAZ bejubelte unterdessen den Zentralbank-Bau des Architekturbüros Coop Himmelb(l)au als
"Frankfurter Kristallriff […]. Frei von Gefälligkeitsgesten, wohlfeilem Dekor und anbiedernden Traditionalismen." -
Um aber noch einmal Titelseiten in den Blick zu nehmen:
Die FRANKFURTER RUNDSCHAU zeigte am Mittwoch den EZB-Turm eingewickelt in Nato-Stacheldraht und erklärte
"Warum die Demonstrationen vor der EZB richtig und notwendig sind".
Am Donnerstag brannten auf dem Titel der FR die Barrikaden genauso lichterloh wie vorher in der Stadt und Chef-Redakteurin Bascha Mika beeilte sich klarzustellen:
Jeder Demonstrant, der Wut in Gewalt umgemünzt habe, habe
"sein politisches Anliegen gezielt verraten".
Am Freitag dann Aufatmen: "Frankfurt rüstet ab." Der FR-Titel zeigte einen Polizisten, Stacheldraht einwickelnd. –
Der gemeinsame Nenner von Griechenland- und EU-Finanzkrise, von den Frankfurter Krawallen und der Europäischen Zentralbank, das ist natürlich der Kapitalismus…
Den Andreas Zielcke in der SZ als "institutionell dumm" brandmarkte, und zwar, weil er sich selbst der größte, allerdings auch der einzige Gegner ist:
"Die Frage ist nicht, ob der Kapitalismus stirbt, sondern wie. Gründe wären die Ausbeutung des Staates, der Krieg gegen das Klima, vor allem aber der Verlust des sozialen Fundaments. Die Elite isoliert sich, der Rest darbt",
schrieb SZ-Autor Zielcke in bestem Blockupy-Sound, paraphrasierte dabei allerdings nur die Thesen des Soziologen Wolfgang Streeck. –
Neben dem Finger und der Bank war es ein Tuch, das die Köpfe der Feuilletonisten Rauchen machte – nämlich das Kopftuch, das viele muslimische Frauen aus Glaubensgründen anlegen.
Das Bundesverfassungsgerichts hat entschieden: Ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrinnen ist unvereinbar mit dem Grundrecht auf Glaubensfreiheit.
Der FAZ-Autor Christian Geyer klatschte begeistert Beifall:
"Der intelligente Staat, dem seine freiheitlichen Grundlagen lieb sind, [sollte] Religion rechtzeitig verstaatlichen […], wenn er nicht plötzlich mit einer Staatsreligion aufwachen will. Der deutsche Staat tut genau dies: Er widersagt dem laizistischen Modell, setzt auf Kooperation mit der Religion statt auf ihre Abdrängung ins Private, lässt deshalb […] Religionsunterricht in staatlichen Schulen zu und nun eben auch das Kopftuch seines muslimischen Lehrpersonals. Das ist keine Schicksalsergebenheit, sondern eine kluge Strategie der Religionszähmung."
Okay, das war jetzt noch einmal etwas zum Mitdenken.
Falls Sie an diesem Sonntag indessen geistig blau machen wollen, liebe Hörer – auch gut! Wir halten es da mit der BERLINER ZEITUNG, die titelte:
"Geh den Weg, der am richtigsten ist."
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