Aus den Feuilletons

Wie viele Likes braucht ein Mensch?

Die Internetseite von facebook ist auf einem Laptop zu sehen.
Facebook steht wegen Hass-Botschaften von Nutzern in der Kritik. © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Von Gregor Sander · 15.12.2016
Die Feuilletons beschäftigen sich unter anderem mit der Frage, wie sich Soziale Netzwerke auf Menschen auswirken. Die "Neue Züricher Zeitung" etwa sieht ein Problem darin, wenn wir uns und andere ständig in Rankings einteilen. Und hat auch einen Ratschlag, wie wir das ändern können.
"Tja, das ist das Ende",
mit diesen lapidaren Worten beginnt der türkische Journalist und Blogger Yavuz Baydar seinen Artikel über das vorläufige Einfrieren der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und kommentiert das in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG so:
"Dieser Schritt war unvermeidlich, denn alle Indikatoren zeigen ja den rapiden Abbau der fragilen demokratischen Ordnung in der Türkei. Das Nachbeben des verpfuschten Putsches, in dem Erdoğan vielen Beobachtern zufolge seinen Willen zu einer beschleunigten Machtergreifung offenlegte, zerrte am Geduldsfaden der EU Länder."
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG liest der Historiker Gregor Schöllgen von der Universität Erlangen hingegen auch Europa die Leviten:
"Dort sollte man sich erinnern, dass man Erdogan, lange Zeit und mit gutem Grund, als Hoffnungsträger wahrgenommen und hofiert hat. Und man sollte sich zudem erinnern, dass auch nach 2005, als man die Türkei in den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhob, den Worten keine Taten gefolgt sind - vom alljährlichen hundertseitigen Prüfungsbericht einmal abgesehen. Mithin gilt auch hier: Zu einer gescheiterten Beziehung gehören immer zwei."

Soziale Medien als Selbstbespiegelungsanlagen

Das gleiche Bild bemüht Andreas Zielke in der SZ, wenn auch für ein anderes Thema und erweitert um einen Tanz:
"Man braucht immer zwei zum Tango: Die sozialen Medien haben sich zu Selbstbespiegelungsanlagen und Echokammern entwickelt, die von Autokraten hemmungslos befeuert werden",
so Zielke. Besonders Facebook habe sich in so einen egomanischen Ort verwandelt:
"Im Gegensatz zu Zuckerbergs Credo, dass das Netzwerk dem 'besseren Verständnis für das Leben und die Sichtweisen anderer' diene, verhält es sich umgekehrt: Facebook ist das Massenmedium, das es allen Beteiligten erlaubt, von den Sichtweisen der anderen verschont zu werden. Mehr noch, es schafft genau die Fremdheit, die man dann aggressiv ablehnt."
Dieser permanenten Selbstbespiegelung widmet die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG ihren Leitartikel:
"Wie viele Likes der Mensch braucht", versucht hier Carlo Strenger zu erklären. Er ist Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Ein Problem sieht er im permanenten Ranking um uns herum. Der erfolgreichste Unternehmer, der begehrenswerteste Single, der vielversprechendste Schriftsteller und der sexyeste Mensch überhaupt.
"Diese Skalen bilden einen globalen Markt der Ich-Kommodifizierung, in dem der Wert - oder besser: der "Wert" - jedes Menschen festgelegt ist. Die einfachste Skala ist natürlich Reichtum. Aber auch Prominenz ist heute leicht messbar. Die Einflussreicheren messen sich am ehesten über Google, die Jüngeren über Facebook."
Und wie kommt man aus diesem Wahnsinn wieder raus? Professor Strenger gibt folgenden Rat:
"Um Autonomie gegenüber den quantifizierbaren Aspekten des eigenen 'Wertes' zu gewinnen, bedarf es des mentalen Trainings. Das wurde bereits in der antiken Philosophie beschrieben. Vor allem die Stoiker und Epikureer haben darauf hingewiesen, dass nur die Distanz zu äusseren Erfolgsfaktoren wirklich innere Ruhe schaffen kann."

Achtsamkeitsmagazin von "Gruner+Jahr" verrissen

Mit dieser inneren Ruhe kann man dann ja eines der Achtsamkeitsmagazine von "Gruner + Jahr" lesen. Das für die Frau heißt "Flow" und wird von Amna Franzke in der TAZ so besprochen:
"Alles ist schön rosa, das Cover glitzert, und natürlich gibt es bei Flow nicht nur Seiten zum Rausnehmen und Gestalten, sondern auch richtige Texte."
Die haben der Autorin aber nicht gefallen. Also kommen wir gleich zum Heft für den Mann, dass "Wolf" heißt und von Uli Hannemann in der TAZ erklärt wird:
"Der Titel ist eine Reminiszenz an den rückwärts gelesenen Muttertitel Flow und zugleich an ein wildes und unabhängiges Tier. Wenn im Rudel, dann aber oben in der Hierarchie, wo man einen Korn für 36 Euro kauft, der 'von zwei Brüdern gebrannt wird und den Duft von frischem Brot ins Glas bringt'. Die Grenzen zwischen Reklame und Redaktionellem verwischen konsequent",
so Hannemann. Mit anderen Worten also: Ein Lego-Katalog für Erwachsene.
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