Aus den Feuilletons

Wie edel ist Bestechung?

Korruption ist in der EU in vielen Formen verbreitet.
Korruption hat viele Gesichter © dpa / picture-alliance / Josef Horazny
Von Arno Orzessek · 06.06.2015
Ein Feuilletonist der Tageszeitung "Die Welt" lobt die Korruption - sie könne auch gut und human sein, wie etwa die Korrumpierung irakischer Stammesführer oder von SED-Funktionären. Gewagte These - aber die Feuilletons kamen in dieser Woche ohnehin meinungsstark daher.
Wer an den Feuilletons das Meinungsstarke und Komplexe schätzt, der kam gleich am Montag auf seine Kosten.
"Korruption kann gut sein", posaunte die Tageszeitung DIE WELT mitten im größten Tohuwabohu um Sepp Blatter...
Hatte allerdings nicht das Korruptions-Kartell Fifa im Auge, sondern besondere historische Situationen.
"Im Irak zum Beispiel [hob WELT-Autor Richard Herzinger hervor] gelang es [...] den USA, den lange Zeit maßlos wütenden Terror im Land einzudämmen, als sie in den Jahren 2007/2008 die sunnitischen Stammesführer schlicht kauften. [...] Dass der Irak heute schlimmer denn je von Mord und Terror heimgesucht wird, liegt auch daran, dass keine Macht mehr bereit steht, die den Willen und die Mittel aufbringt, die Akteure durch Bestechung zu einer gewissen Mäßigung zu bewegen."
Im übrigen belobigte Richard Herzinger auch Deutschland für "den humanisierenden Einsatz von Korrumpierung".
"Denn um eine solche [so der WELT-Autor] handelte es sich im Grunde bei der Zahlung gewaltiger Geldmittel der Bundesrepublik an die DDR. So wurde das SED-Regime durch einen Milliardenkredit dazu gebracht, die Selbstschussanlagen an der Grenze abzubauen."
Digitale Gesellschaft nur ohne Menschen denkbar?
Auf einem völlig anderen Blatt stand die forsche Montags-These der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG: "Es gibt keine digitale Gesellschaft."
Um die Erklärung des Medienhistorikers Lutz Hachmeister zu verstehen, tat indessen ein ordentliches Quantum Ausgeschlafenheit not.
Hachmeisters argumentierte derart abstrakt und im übrigen radio-inkompatibel, das wir ihn an dieser Stelle nur zitieren, liebe Hörer, wenn Sie versprechen, trotzdem dranzubleiben.
Okay? Okay!
"Das digitale ist ein gut funktionierendes Kalkül aus Konstruktion und empirischer Beobachtung und ein wirkungsmächtiges Durchgangsstadium der Technologieentwicklung. Die Binärcodierung funktioniert genauso gut wie die moderne Zeitmessung, aber niemand wird ernsthaft glauben, dass es 11.30 Uhr oder Freitag, der 13., 'ist', nur weil sich das Konstruktionsprinzip bislang als verlässlich [...] erwiesen hat. Vor allem begründet die binäre Codierung nicht [...] in irgendeiner Form 'Gesellschaft'. Die Übertragung eines evolutionär relativen, naturwissenschaftlichen oder technischen Kalküls auf einen soziologischen Grundbegriff ist ein schlichter Kategorienfehler."
Für diejenigen unter uns, die das jetzt eine Spur zu verblasen fanden, hier die Hauptpointe noch einmal in simpel:
"Eine 'digitale Gesellschaft' [betonte der FAZ-Autor Hachmeister] wäre [...] nur ohne Menschen aus Fleisch und Blut denkbar."
Aber wer weiß – vielleicht läuft's ja darauf hinaus: Digitale Maschinen unter sich.
Das Irrationale der Rationalität
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG jedenfalls titelte am Thesen-Montag: "Die Moderne ist ein Feind der Menschlichkeit".
Im Gespräch mit Sebastian Schoepp machte sich der Anthropologe Constantin von Barloewen für die "Empathie als Erkenntnismittel" und die "Einbindung spiritueller Dimensionen" in die westliche Kultur stark. Denn, so von Barloewen:
"Die vermeintliche Rationalität, auch in der digitalen Welt oder der Wirtschaft, ist in Wahrheit durch ein Höchstmaß an Irrationalität und Bedrohlichkeit geprägt. Der Mensch bleibt in seiner Evolutionsgeschichte ein 'metaphysisches Tier'."
Aber warum, wollte die SZ wissen, hat sich der westliche Fortschrittsbegriff derart flächendeckend durchgesetzt?
"Weil er sehr verlockend ist [gestand von Barloewen]. Die Gadgets der digitalen Welt sind verführerisch. Der langfristige Verlust von Kultur wird einem erst viel später bewusst. Und vergessen Sie nicht die außerordentliche Übermacht der industriellen Staaten, die nach willigen Absatzmärkten suchen." –
Wie Sie merken, liebe Hörer, kaprizieren wir uns heute auf Artikel von der zeitlosen Sorte...
Evolution hat Alzheimer nicht ausgemerzt
Wozu auch "Abschied vom Ich" zählt – Gottfried Schatz' Überlegungen zur millionenfachen Ausbreitung der Alzheimerkrankheit, erschienen in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.
"Warum hat die Evolution die Gene, [...] [die Alzheimer begünstigen], nicht völlig ausgemerzt? Ein Grund ist wahrscheinlich, dass sich diese Gene in früheren Zeiten nur sehr selten entfalten konnten, weil die meister ihrer Träger vor Ausbruch der Krankheit starben – und heute zeigt sich die Wirkung dieser Gene in den meisten Fällen erst in einem Lebensabschnitt, in dem die Betroffenen keine Kinder mehr zeugen. Damit schlagen diese Gene der biologischen Selektion ein Schnippchen."
Es war ein informativer, ungewöhnlich wissenschaftlicher Alzheimer-Artikel – bis NZZ-Autor Schatz am Ende die existenziellen Konsequenzen bedachte:
"Was [...] ist der angemessene Umgang mit Menschen, die ihre Funktionen, welche das Menschsein ausmachen, verloren haben? [...] Und wann hört ein Mensch auf, ein Mensch zu sein? Diese Fragen führen unmittelbar zu jener nach dem würdigen Ende unseres Lebens und – zumindest für mich [...] und mit aller Vorsicht gesagt – zu der Möglichkeit, dieses Leben freiwillig beenden zu dürfen."
Die "Pipilotisierung" der Welt
Vergebens nach Grundsatzartikeln wie überhaupt nach Worten suchte man im Feuilleton der Wochenzeitung DIE ZEIT: Die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist hatte es in ein Kunstwerk umgestaltet.
"Lassen auch Sie sich pipilotisieren!" forderte die ZEIT auf dem Beipackzettel von ihren Lesern.
Da Pipilotisierung im Radio kaum möglich ist, hier die fröhliche Selbstauskunft der Künstlerin, die in der ZEIT als "Die Fix-it-Frau" firmierte:
"Ich bin ein großer Fan davon, die Freude, die Leichtigkeit zu beschwören. Denn das Gegenteil davon stellt sich automatisch ein."
Lerne, dich zu freuen!
Womit wir beim letzten Thema wären. Über "Das gute Leben" dachte Bernd Graff in der SZ nach... Und wie immer, wenn es um Lebenskunst geht, kamen auch die antiken Denker eine Rolle.
Gern überlassen wir darum Seneca die abschließenden Worte. Sie lauten: "Disce gaudere."
Ärgern Sie sich jetzt aber bloß nicht, falls Sie kein Latein verstehen. Auf Deutsch heißt Senecas Spruch nämlich: "Lerne, dich zu freuen.'"
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