Aus den Feuilletons

Wenn Zuschauer nicht mehr frei entscheiden können

Saal der Bayerischen Staatsoper in München
Saal und Bühne der Bayerischen Staatsoper in München: verlieren Zuschauer ihre Freiheit, wenn sie sich Video-Übertragungen ansehen - anstatt selbst in die Oper oder ins Theater zu gehen? © dpa / picture alliance / Marc Müller
Von Burkhard Müller-Ullrich · 31.10.2014
Sollten Theater ihre Premieren im Internet live übertragen? Der Vorschlag des Berliner Kulturstaatssekretärs Tim Renner wird in den Feuilletons unterschiedlich bewertet. Besonders groß ist die Angst vor einer Entmündigung der Zuschauer.
Der hochmoderne und technikaffine Berliner Sogutwiekultursenator Tim Renner hat sich, nach einem halben Jahr im Amt, kürzlich mit dem Vorschlag ins Gespräch gebracht, die Theater sollten doch Videos von ihren Premieren ins Internet stellen, beziehungsweise diese live übertragen. Einen Tag nachdem der Schriftsteller Joachim Lottmann in der WELT erklärt hat, was daran schlecht ist, macht Gerhard Stadelmeier in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG die Idee mit dem Livestream, den er mit "Lebendigkeitsstrom" übersetzt, madig.
Sein Argument ist dabei dasselbe wie für jede Art von Theaterverfilmung:
"Eine Kamera lenkt den Blick - nach dem Willen des Regisseurs. Der Zuschauer im Theater lenkt seinen eigenen Blick – auch gegen den Willen des Regisseurs."
Deswegen ist das Theater in Stadelmaiers Worten eine freie Kunst.
"Es können achthundert Leute im Zuschauerraum sitzen. Und sie sehen an einem Abend achthundert verschiedene Vorstellungen. Denn jeder sieht anders. Der eine kann den Blick auf das kleine Sofa rechts hinten konzentrieren, auf dem ein sonst nacktes, aber mit hohen Springerstiefeln beschuhtes NSU-Liebespaar sich kopulativ verknäuelt. Der andere richtet das Auge lieber fasziniert auf die Badewanne links vorne, in der gerade ein antifaschistischer Papagei geschlachtet wird."
Das ist natürlich eine schöne Stadelmaiersche Persiflage auf ein typisches Bühnengeschehen, wie er es hasst. Und da er gerade am Persiflieren ist, stellt er sich auch vor, wie eine Volksbühnen-Castorf-Aufführung, die selbst mit lauter Videos gespickt ist, dann als Video-Stream auf die iPads kommt: die Abfilmung der Vorführung von etwas Abgefilmtem, was einem Zuschauer im Theaterparkett statt des Bühnengeschehens gezeigt wird, was sich aber nur hinter und unter den Kulissen abspielt.
Rumpeln hinter den Feuilletonkulissen
Hinter und unter den Feuilletonkulissen rumpelt es seit Frank Schirrmachers Tod erheblich; es scheint, als wolle sich die ganze Kollegenszene neu sortieren. Dirk Schümers Wechsel von der FAZ zur WELT war eine der eklatantesten Nachrichten in diesem Zusammenhang, und jetzt gibt der Italien- und Hollandkenner Schümer nach mehrwöchiger Veröffentlichungspause seinen Einstand bei der WELT mit einem eindringlichen Gedenkartikel zu der Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh am 2. November vor zehn Jahren durch einen in Amsterdam geborenen und aufgewachsenen Islamisten aus marokkanischer Familie.
Es waren zehn verlorene Jahre, konstatiert Schümer:
"Der Mörder äußert in Briefen an islamische Hilfsorganisationen, die ihn von außen unterstützen, bis heute seinen Triumph: Er habe keine Sekunde Bedauern verspürt."
Von Anfang an war die öffentliche Reaktion in den Niederlanden merkwürdig lau - wie das ja in allen westlichen Kulturen der Fall ist. Es hatte zwar eine eindrucksvolle Mobilisierung mit 20.000 Demonstranten in Amsterdam gegeben, referiert Schümer, aber inzwischen ist das, was vor zehn Jahren als ein barbarischer Einzelakt erschien, zu einer gängigen Drohung geworden: das Durchschneiden von Kehlen. Schümer weist auf die Hassvideos hin, die derzeit in den niederländischen Fernsehnachrichten laufen: darin drohen für den Islamischen Staat in Syrien kämpfende Jugendliche im Amsterdamer Slang den Ungläubigen an, sie zu köpfen.
Spaniens neues Gesetz über geistiges Eigentum im Internet
Solche Videos sind sicher auch urheberrechtlich geschützt, bloß weiß man nicht, wie. Das weiß man auch in Spanien nicht, nachdem dort ein Gesetz über geistiges Eigentum im Internet gebastelt wurde, das Anfang nächsten Jahres in Kraft tritt, worüber Paul Ingendaay in der FAZ berichtet:
"Vom 1.Januar 2015 an müssen Firmen wie Google News für die Verwendung von Textauszügen an Autoren und Verlage eine Abgabe zahlen. Vergleichbares ist in Deutschland bisher nicht gelungen. Der Gesetzestext lässt allerdings reichlich Deutungsspielraum und eröffnet weite Szenarien für gerichtliche Auseinandersetzungen,"
schreibt der Autor und dass es die Spanier mit dem Respekt geistigen Eigentums sowieso nicht so haben:
"Letztes Jahr ergab eine Studie, in spanischen Firmen seien 45 Prozent der Software unrechtmäßig kopiert."
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