Aus den Feuilletons

Was Transparenz mit Pornografie zu tun hat

Finger auf Computertastatur mit einer Porno-Taste
Es gebe eine "Pornografisierung aller Lebensbereiche", schreibt die "taz". © imago / Christian Ohde
Von Arno Orzessek · 22.03.2016
Die westliche Kultur habe den Geschmack für geheimisvolle Erotik verloren, schreibt die "taz": Die Pornografisierung aller Lebensbereiche schließe das Gebot zum Enthüllen persönlicher Daten mit ein – lesen wir in einer Rezension zweier Kunstausstellungen in Wolfsburg.
"Die Welt ist ein Misthaufen, eine Katastrophe, ein Dilemma", wettert die TAGESZEITUNG.
Aber falls Sie diese Diagnose für eine emotional etwas fulminante Reaktion auf die Brüsseler Anschläge halten, liebe Hörer, dann gehen Sie in die Irre. Tatsächlich sorgt sich die Schriftstellerin Katrin Sedding um das Leben der Lämmer, die nach verbreiteter Sitte in dieser Woche geschlachtet und zu Ostern verschmaust werden.
"Ob Jesus das freuen würde? Dass wir zur Erinnerung an ihn ein Baby-Schaf töten?" Fragt Sedding und gibt zu bedenken:
"Wenn wir uns opferten, wie Jesus, würde das niemandem nützen, aber wenn wir unsere Essgewohnheiten opferten, würde das einem kleinen Schaf nützen, immerhin."

Nur für Franziskus-Liebhaber

Verharren wir noch bei christlichen Themen.
Unter der klangvollen Überschrift "Wider eine gnadenlose Theologie der Gnade" bespricht Jan-Heiner Tück in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG das neue Buch von Papst Franziskus
"Der Name Gottes ist Barmherzigkeit".
Tücks Artikel ist ein echtes Liebhaber-Stück, das nur diejenigen versäumen dürfen, die sich so gar nicht für die Feinheiten der katholischen Lehre interessieren.
Indessen kennt der NZZ-Autor Tück "die Abwehrreflexe, die der Begriff Barmherzigkeit bei manch säkularem Zeitgenossen hervorruft" – und aus Anlass der Karwoche wollen wir Tücks Lösungsvorschlag für die erwähnten Ignoranten kurz ausführen.
"Damit sie zu einem ehrlichen Umgang mit eigener Schuld gelangen, könnte man – mit Franziskus und über diesen hinaus – religiös unmusikalischen Agnostikern empfehlen, die Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes im Modus des Als-ob anzunehmen. Würden sie nur einmal so tun, etsi Deus daretur, als ob es einen Gott gäbe, der sie gnädig ansähe – sie könnten aus dem 'Reizklima des Besserwissens' (wie Martin Walser das genannt hat) aussteigen."
Wer übrigens nach diesem NZZ-Artikel so richtig Lust auf Franziskus bekommen hat, der lese in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG "Stadt der Heiligen und der Narren", ein Artikel, in dem Thomas Steinfeld die Franziskus-Ausstellung in Ascoli bespricht.

Gebot zur Entblößung auch im abstrakten Sinn

Wir aber verzichten auf fromme Überleitungen und befinden uns mit einem Titel der TAGESZEITUNG alsbald "In pornografischer Gesellschaft".
Allerdings sollte man sich jetzt nicht zu viel Lustgewinn versprechen.
Denn Bettina Maria Brosowsky ist es um eine züchtig-seriöse Besprechung der beiden Ausstellungen "Verführen" und "Soweit die Meldungen" im Kunstverein Wolfsburg zu tun.
Unsere westliche Kultur habe den Geschmack für das Geheimnisvolle der Erotik verloren und sei "dem Furor der Transparenz erlegen", behauptet die TAZ-Autorin vermutlich zurecht – und hebt dann ordentlich ab:
"Die Kehrseite dieser völligen Offenbarung ist die Pornografisierung aller Lebensbereiche, ihr Gebot das Enthüllen und Entblößen, auch im abstrakten Sinne. Die offensive Selbstperformanz und permanente Eigenoptimierung wurden Zwangsfaktoren im spätkapitalistischen Wirtschaftssystem, die zu Markte getragene Persönlichkeitssphäre dient nicht erst seit der Datenpreisgabe in der Digitalisierung einer kommerziellen Ausbeutung sondergleichen."
Zur Verteidigung der TAZ-Autorin Brosowksy sei gesagt, dass sie an dieser trockenen Stelle die pauschal-schematische Argumentation des Kulturphilosophen Byung-Chul Han paraphrasiert.
Könnte es sein, liebe Hörer, dass Sie darauf warten, dass wir endlich auf Brüssel und die Anschläge zu sprechen kommen, auf den waltenden Weltbürgerkrieg?

Besserwisserei gegenüber Belgien

Tja, fast alle frischen Feuilletons verzichten auf Deutungen der blutigen Ereignisse und/oder überlassen anderen Ressorts das Recht des ersten Zugriffs.
Nicht so die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, in der Jürg Altwegg das französisch-belgische Verhältnis in Zeiten des Terrors beschreibt und das Fazit zieht:
"Von einer Schicksalsgemeinschaft ist nach den Anschlägen in Brüssel erbärmlich wenig zu spüren. Die innenpolitische Instrumentalisierung des Terrors und die Schuldzuweisungen gehen munter weiter. Schadenfreude wird nicht wirklich manifest. Aber mit der arroganten Besserwisserei gegenüber dem Kleinstaat Belgien ist es nicht zu Ende. Von keiner Seite kam ein Aufruf 'Wir sind alle Belgier.'"
Nun denn. Die Welt ist offenbar genauso, wie eine NZZ-Überschrift es ausdrückt, nämlich: "Aus dem Lot geraten".
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