Aus den Feuilletons

Was nun, Großbritannien?

 Fish & Chips
Nach dem Ausstieg: Keine Baguettes mehr für die Insel. Und keine Stullen - nur noch Fish & Chips © dpa / picture alliance / Phil Noble
Von Ulrike Timm · 25.06.2016
Katzenjammer in den Feuilletons nach dem Brexit-Votum: "We are really, really fucked", heißt es in der "Taz", und die "Welt" kritisiert die Negativkampagne des Remainlagers, das nicht mehr zu bieten hatte, als sich als das kleinere Übel zu präsentieren.
"We’re really, really fucked", schimpfte die junge britische Sängerin Lily Allen, und während ihr kerniger Frustausruf in der WELT eher ein Hinterbänklerdasein führt, kürt ihn die TAZ zur Überschrift. "We’re really, really fucked" bringt eben nicht nur die Ernüchterung des Remain-Lagers auf den Punkt, sondern zugleich das Lebensgefühl der Generation britischer junger Wähler, die zu zwei Dritteln für den Verbleib ihres Landes in der EU stimmten. Lily Allen überlegt jedenfalls, für ihre kleinen Kinder die irische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Die Iren bleiben drin, selbst wenn das United Kingdom dann kleiner wird, da ist sich die 31-jährige Britin sicher.

Fremdheitsgefühle gegenüber der Heimat

"Wahrscheinlich kommt es zur Trennung von Schottland und zum Zerfall des Vereinigten Königreichs, ironischerweise selbst verschuldet", meint der Kunsthistoriker und Kurator Mark Gisbourne im TAGESSPIEGEL vom Sonntag. Er lebt seit langem in Berlin und wird sich vielleicht überlegen müssen, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, um sein europaweites Leben und Arbeiten weiterführen zu können. "Ich werde nun nicht mehr ein europäischer Bürger sein, sondern ein Fremder an einem Ort, den ich als meine Heimat empfinde", sagt Gisbourne dem TAGESSPIEGEL.
"Der große Fehler derjenigen, die für den Verbleib in der EU eintraten, war, dass sie den Wählern gesagt haben: Fürchtet euch! Während die Austrittsanhänger anführten: Seid unabhängig!", so analysiert es der Soziologe Richard Sennett in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.

"Großbritannien wird aufblühen"

Erwartungsgemäß dominieren die betrübten bis fassungslosen Stimmen in den deutschen Feuilletons, für den Bestsellerautor Matt Ridley – er ist Mitglied im House of Lords – stellt sich die Sache anders da. Er meint, ebenfalls in der SÜDDEUTSCHEN:
"Großbritannien wird aufblühen. Europas Bruttosozialprodukt hat sich erst jetzt auf den Stand vor der Finanzkrise zurückgeackert. Eben weil die Besessenheit, mit der die EU Währungen und Regeln harmonisiert, Innovation verhindert. So wurden wir in den digitalen Technologien abgehängt. In Europa gibt es keine Firmen, die es mit Amazon, Google, Apple und Facebook aufnehmen könnten."
"Ein klügeres England hat auf den Manchesterkapitalismus mit der Erfindung von Streik und Gewerkschaften reagiert. Ein klügeres England hat die Puritaner, die ihm mit der Hölle drohten, verlacht und vom Hof gejagt. Das England vom 23. Juni hingegen hat zwischen Angst und Angst gewählt. Zwischen der Aussicht, im Fall eines Verbleibs in der EU einen Albaner als Nachbarn zu haben, oder aber – im Fall eines Austritts – kein Haus."

Europakritische Töne nicht ernst genommen

Auch hier wieder die Kritik an der Negativkampagne, an der müden, mattpatschigen Attitüde, mit der das Remainlager "Wird sonst noch schlimmer" rief und nicht merkte, dass das nicht reicht. Nun ist’s passiert. Ob sich in Großbritannien im Sinne von Bestsellerautor Ridley innerhalb der nächsten Jahre nun ein Apple-Äquivalent ansiedelt – am besten auf dem Land und nicht in diesem neumodisch-europäisch gesinnten London – das steht aus! Ebenso wie eine europäische Diskussion darüber, ob man diejenigen europakritischen Töne, die nicht aus rechtspopulistischer Ecke kamen, hätte ernster nehmen müssen.
Thomas Kielinger erläutert in der WELT das tief verwurzelte britische Verständnis einer Balance of power, eine "Kontinuität der Skepsis" gegen jede Art von Entscheidung, die man angeblich nie mehr umkehren darf. "Wer den Sinn der Briten für Souveränität und Liberalität, wer ihren (Über-)Mut verstehen will, sollte einen Blick in die maritime Geschichte der Insel werfen", rät der Autor in einem Artikel, der über ein bloßes "Die spinnen, die Briten" hinausgeht – aber hinterher ist man natürlich immer schlauer!

Kindliche Freude über Christos Luftkissen-Piers

Gab’s noch was Positives in dieser Woche? Klar, rund 55.000 tägliche Besucher aus ganz Europa und der Welt stürzen derzeit die eigentlich recht abgeschiedene Gegend um den italienischen Iseo-See ins fröhliche Chaos. Alle wollen sie übers Wasser laufen, Christos goldgelbe Piers aus Luftkissen locken! "Laufen ist nicht ganz das richtige Wort, es ist eher wie ein vorsichtiges Staksen über eine Luftmatratze", so der Kunst-Testgeher der WELT, Hans- Joachim Müller, man spürt, "wie die Schritte immer weicher und schmiegsamer werden. Nach hundert Metern Über-Wasser-Treten meint man, jeder anrollenden Welle trotzen zu können". Und beim Lesen meint man plötzlich eine Portion fröhlichen Wackelpuddings in den Beinen zu verspüren…
Mit fast kindlicher Freude berichten die Feuilletons vom Spaziergang über Christos Kunst, vom Gang übers Wasser, die Piers haben für die WELT die Konsistenz "schwabbligen Eidotters", während sich die ZEIT "barfuß auf Orangenhaut" wähnt. Fazit: Christo "hat es mal wieder geschafft".

Der Fußballer als Kulturbürger

Überraschendes fördert die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG zutage, die staunt, wie Kunst und Kultur im Umfeld der Fußball EM blühen – jedenfalls sieht Marc Zitzmann das so:
"Fußballer lesen Rilke, sammeln zeitgenössische Gemälde und spielen in Autorenfilmen mit; Künstler, Dichter und Denker haben den beliebtesten Volkssport als vollgültiges Thema für sich entdeckt."
Falls Ihnen nun auch nicht spontan ein Rilke lesender Fußballer einfällt, dafür eher Balltreter, die ihre Kontoauszüge studieren – vielleicht ist das schlicht eine Frage, die ganz "aus der Tiefe des Raumes" kommt…