Aus den Feuilletons

Was die Untertanen glauben und hoffen

Ein Bettler sitzt bei Minusgraden in gebückter Haltung auf seinen Knien auf der Karlsbrücke in Prag und hofft auf eine milde Gabe, aufgenommen am 28.11.2007. Foto: Bodo Marks +++(c) dpa - Report+++
Ein Mann sitzt in gebückter Haltung auf seinen Knien auf der Karlsbrücke in Prag © dpa / Bodo Marks
Von Burkhard Müller-Ullrich · 12.02.2016
Die Untertanen wollten durch Hoffnungen betrogen werden, die Machtelite glaube an ihre eigenen Verheißungen - im Feuilleton der "NZZ" schreibt der Göttinger Sozialphilosoph Wolfgang Sofsky über eine "Beharrlichkeit der Illusionen". Die Feuilletons der "SZ" und der "Welt" beleuchten Kriminelles.
Es hat immer wieder was Beglückendes, die deprimierenden Texte von Wolfgang Sofsky zu lesen. Der Göttinger Sozialphilosoph gehört zu den brillantesten Kulturapokalyptikern, seine Zeitgeistanalysen sind in leuchtendem Schwarz geschrieben, und ihr glänzender Stil macht ihre niederschmetternde Wahrheit geradezu gefällig. Jetzt steht in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG so ein giftiger Text mit dem Titel: "Glauben, Leugnen, Hoffen – Die Beharrlichkeit der Illusionen".
"Nicht zu heilsamer Desillusionierung verhilft die Sturmzeit der Krise, sie treibt geradewegs in die Scheinwelt des Glaubens, Hoffens, Wünschens. Krisen machen nicht klüger",
heißt es da mit Bezug auf die aktuellen politischen Katastrophen von Massenmigration über islamistischen Terror bis zur Rückkehr des Krieges nach Europa, nach Jugoslawien und in die Ukraine. Schritt für Schritt beschreibt Sofsky die Strategien des Selbstbetrugs, wie man sie in unserem öffentlichen Leben und im Mediendiskurs zur Genüge kennt:
"Indem man die Übel negiert, versetzt man sich in eine fiktive, aber erträgliche Welt, in der es sich leben lässt, auch wenn die Umstände immer widriger werden. Die Verleugnung betrifft auch das Handeln. Entweder hält man sich für omnipotent und glaubt, alles 'schaffen' zu können. Oder man erklärt sich für ohnmächtig, weil man unliebsame Maßnahmen unterlassen will.
Das Schlimmste aber, so Sofsky, ist ein besinnungsloses Hoffen, das nicht wie das Blochsche Prinzip Mut zum Handeln macht, sondern gegen Tatsachen immunisiert.
"Die Untertanen möchten an das glauben, was ihnen vorgemacht wird. Sie möchten durch Hoffnungen betrogen werden, damit sie sich selbst betrügen können, möchten entlastet und von den tausend Sorgen befreit sein. Die Machtelite wiederum glaubt selbst an ihre Verheißungen. Hoffnung stärkt ihre Mission, der sie ihre Existenz verdankt."

Polizeilich versiegelte Bibliothek

Auf einer mehr privaten Ebene des Betrugs, der Verheißungen und Illusionen bewegt sich der Bericht von Thomas Steinfeld in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, in dem es um die Bibliotheca Girolamini in Neapel geht. Diese zweitälteste Bibliothek Italiens ist nicht nur geschlossen, sie ist polizeilich versiegelt. Sie war nämlich ab 2011 Schauplatz eines gigantischen und systematischen Bücherdiebstahls durch den gerade neu ernannten Direktor, den damals 38-jährigen Marino Massimo De Caro, über den Steinfeld zu berichten weiß:
"In den Sälen stapelte er die Bücher nicht nur in zusätzlich hereingebrachten Regalen, sondern auch auf Tischen und auf dem Fußboden. In diesem Durcheinander waltete er seines Amtes, begleitet von einem Schäferhund und hauptsächlich nachts arbeitend, wobei ihm eine sehr junge ukrainische Assistentin und ein paar kräftige Herren aus Osteuropa halfen – während den Angestellten der Bibliothek der Zutritt zu den Prachträumen verwehrt wurde."
Dieser De Caro ist übrigens derselbe Mann, der mit stupendem Geschick ein angebliches Arbeitsexemplar von Galileo Galileis "Sternenboten" gefälscht und in New York auf den Markt gebracht hatte, worauf der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp spektakulär hereinfiel.
Und auch dies hat Steinfeld recherchiert:
"De Caro lebt gegenwärtig in seiner Villa bei Verona. Er wurde wegen Unterschlagung zu einer Haft von sieben Jahren verurteilt, doch wurde die Strafe, seiner angegriffenen Gesundheit wegen, nach einem knappen halben Jahr in Hausarrest verwandelt."

In einem Meer von Banalität

Und damit wenden wir den Blick von einem echten Tatort zu demjenigen im Fernsehen und zu all der grausigen Krimi-Film-Ware, die uns das Fernsehen tagtäglich anbietet, und über die sich Dirk Schümer in der WELT ein paar sorgenvolle Gedanken macht.
"Würden Historiker späterer Zeiten unseren Alltag über das Fernseharchiv zu entschlüsseln versuchen,
schreibt Schümer,
sie kämen zu einem eindeutigen Schluss: Eine grauenvoll mordlustige und mitleidlose Nation zwischen blutgetränkten Halligen und Almhütten voller Leichenteile. Weder die Azteken mit ihren Menschenopfern noch die wahrlich nicht zimperlichen Hunnen können da mithalten."
Und warum das alles. Schümer gibt die Antwort: geschuldet ist das alles ...
"... dem Elend des Erzählens existentieller Geschichten in einem Meer von Banalität".