Aus den Feuilletons

Warum es in Paris um die Kultur aller geht

Menschen trauern nach den Anschlägen vor dem Restaurant "Le Petit Cambodge" in Paris.
Menschen trauern nach den Anschlägen vor dem Restaurant "Le Petit Cambodge" in Paris. © dpa / picture alliance / Thomas Padilla
von Arno Orzessek · 21.11.2015
Wurde in Paris unser laxer Hedonismus angegriffen? Nein, meint der "Berliner Tagesspiegel". Die Anschläge seien keine Anschläge auf westliche Werte gewesen, sondern auf grundlegende Bedingungen menschenwürdigen Daseins. Die Feuilletons im Zeichen des Terrors.
"Eine Geschichte des Wahnsinns" – "Ein Pearl Harbor à la francaise" – "Wovon schon bin Ladin träumte" – "Der Angriff auf Pop und Spiele" – "Wir waren zu arglos und zu pazifistisch" – "Wehrpflicht, komm wieder!" – "Notstand? Warum eigentlich nicht?" – "Unsere beste Waffe ist die Raison" – "Wir müssen unsere Angst überwinden" – "Wir streiten, also sind wir" – "Sie sind schwächer, als wir denken" – "Wir, die wir das Leben lieben" –
Schon die Überschriften machten klar: Die Anschläge von Paris haben alle auf- und alles um- und umgewühlt.
So sehr, dass sich der Schriftsteller Pascal Bruckner in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG im falschen Film wähnte.
"Es gibt Ereignisse, die wir nicht glauben können. Sie sprengen unsere Kategorien, passieren, ohne das wir sie verstehen. Was in [...] Paris geschah, gleicht einem Albtraum und wirkt wie eine Fiktion [...]. Paris beim Konzert, Paris in den Straßencafés, Paris als Ort einer sorglos-glücklichen Jugend wurde zum Schauplatz einer schlechten Krimi-Serie",
behauptete der NZZ-Autor Bruckner.
"Ein absurdes Terrorziel. Wieso so ein harmloser Ort?"
Wie es tatsächlich zugegangen war in jener Nacht, beschrieb in der Tageszeitung DIE WELT Bodo Mrozek, der sich zufällig am Boulevard Lenoir aufgehalten hatte.
"Um 23.24 Uhr kommt eine Gruppe junger Menschen aus dem Sperrgebiet gelaufen, einer hebt die Hände, als er einem Polizisten mit Maschinenpistole entgegengeht. Die meisten sind nur mit T-Shirts und Hemden bekleidet [...] . Einigen hat man Rettungsdecken übergeworfen. [...]. Es sind offenkundig entkommene Geiseln, ein Reporter mit Knopf im Ohr nennt das Bataclan als Tatort. Das Bataclan? [...] Die erste Reaktion: ein absurdes Terrorziel. Wieso so ein harmloser Ort?"
In der TAGESZEITUNG erzählte der deutsch-französische Grüne Daniel Cohn-Bendit, was er zwei Tage nach den Attentaten von Bekannten erfuhr:
"Ihr Sohn war in einem der Restaurants, wo es allein 19 Tote gab [...] . Sie feierten dort [...] Geburtstag. Sie tranken, und dann haben einige seiner Freunde gesagt, wir gehen jetzt eine rauchen. Er, auch Raucher, ist nicht rausgegangen. Dann kam der Angriff. Zwei Freunde von ihm starben. Eine Freundin hat ein Bein verloren [...]. Er hat sie rausgezogen unter all den Leichen. [...] Seit den Erlebnissen [...] leben die Überlebenden dieser Gruppe wie ein kleiner Stamm zusammen. Sie ziehen von Wohnung zu Wohnung, diese zehn oder zwölf Menschen. Sie trösten sich, versuchen über die Ereignisse zu sprechen."
"Wir sprechen hier von schwersten Traumatisierungen"
Zur seelischen Last solcher Menschen befragte die FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG den Traumatherapeuten Georg Pieper.
"Wir sprechen hier von schwersten Traumatisierungen. Ähnliche Szenen habe sich 2011 auf der Insel Utöya abgespielt. Aus Schilderungen Überlebender wissen wir, dass sie in der Folge lange unter starker Todesangst litten und immer wieder von schrecklichen Bildern des erlebten Grauens überfallen wurden und in eine Starre fielen, die es ihnen schwer machte, wieder am normalen Leben teilzunehmen."
So Georg Pieper in der FAZ.
Thesen über die Täter stellte der Soziologe Jean-Pierre Le Goff in der TAZ auf.
"Ob sie nun die französische Nationalität hatten oder nicht, diese Kriminellen haben mit der Republik nichts zu tun. [...] Größer könnten die Gegensätze zwischen diesen beiden Welten nicht sein: Auf der einen Seite fanatische Todesverachtung, auf der anderen der selbstbewusste Individualismus, der auf Geselligkeit und Vergnügen aus ist und - so legitim er auch sein mag – selbstzerstörerisch werden kann, eine vergebliche Flucht vor der Unbill dieser Welt und dem Krieg."
"Grundlegende Bedingungen menschenwürdigen Daseins"
Heißt das, dass in Paris unser laxer Hedonismus angegriffen wurde?
Nein, meinte Fabian Federl im BERLINER TAGESSPIEGEL:
"Die Anschläge von Paris waren Anschläge auf Kultur, ja. Aber nicht auf unsere. Zumindest nicht nur. Es geht hier um die Kultur aller. [...] Es ist vermessen, die Opfer zu Märtyrern für ‚westliche Werte' [...] zu machen. 129 Menschen wurde getötet, weil sie sich in der Öffentlichkeit ausgetauscht haben, sich unterhalten haben, weil sie tanzten und Musik hörten. Das sind keine genuin westlichen Werte, das sind grundlegende Bedingungen menschlichen und menschenwürdigen Daseins."
Ob so oder so – der französische Präsident Hollande hat der Terror-Miliz Islamischer Staat den Krieg erklärt...
Und das brachte in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG den französischen Soziologen Michel Wieviorka in Rage:
"Viele vergleichen Hollande schon lange mit Guy Mollet, dem sozialistischen Ministerpräsidenten zu Beginn des Algerienkriegs, der links redete, aber ein harte rechte Politik durchpeitschte. Hollande handelt schon lange wie ein Rechter und redet wie ein Feldherr. Es ist klar, dass [...] ein neues Kapitel der französischen Geschichte beginnt."
"Der IS wirkt zunehmend wie ein hoffnungsloser Fall"
Der FAZ-Autor Reinhard Merkel distanzierte sich seinerseits von Hollandes expliziter Kriegserklärung – vom Hände-in-den-Schoß-legen riet er allerdings auch ab.
"Es gibt aus der gegenwärtigen Krise völkerrechtlich wohl nur einen richtigen Weg: die Anrufung des Sicherheitsrats zum Zwecke einer Autorisierung der erforderlichen militärischen Gewalt gegen den IS"...
Den der SZ-Autor und Osteuropa-Experte Bernard Haykel für nicht sehr stark hält. Im Gegenteil: Die Anschläge von Paris seien verzweifelte Maßnahmen, sich für Rekruten attraktiv zu halten.
"Der IS wirkt zunehmend wie ein hoffnungsloser Fall."
Eine Einschätzung, die SZ-Autor Haykel dieser Tag nur mit wenigen teilt.
In der WELT etwa schrieb der französische Schriftsteller Yannick Haenel:
"Wem ist schon aufgefallen, dass das Gemetzel an einem Freitagabend stattfand, zu Beginn des Sabbats [...]? Auch daran erinnert diese Gräueltat: dass heutzutage nichts mehr sicher ist vor dem ‚Heiligen'. Wir können ihm alle geopfert werden, wir alle, die wir gefangen sind in einer Welt, in der das Böse immer mehr um sich greift, können ihm jederzeit zum Opfer fallen." -
Die TAZ wusste sich über all dem nicht mehr zu helfen und titelte – einem verzweifelten SOS-Signal gleich – die Parole: "Give peace a chance."
In genau diesem Sinne: Schönen Sonntag!
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