Aus den Feuilletons

Warum die Kanzlerin keine Migrantin ist

Bundeskanzlerin Merkel und ein Flüchtling blicken Kopf an Kopf in die Handykamera des Mannes.
Selfie mit Kanzlerin: Merkel lässt sich nach dem Besuch einer Erstaufnahmeeinrichtung in Berlin-Spandau zusammen mit einem Flüchtling fotografieren. © picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Von Adelheid Wedel · 04.10.2015
Die Kanzlerin und die Flüchtlinge beschäftigen die Feuilletons weiter. In der "Welt" bezeichnet Monika Maron eine in der selben Zeitung vorgenommene Analyse als Unsinn: Trotz ihrer Biografie sei Angela Merkel als Ostdeutsche selbst natürlich keine Migrantin.
Die Flüchtlingskrise war und bleibt Thema der Feuilletons. Am Wochenanfang überwiegt die Auseinandersetzung mit Angela Merkels Flüchtlingspolitik, und hierbei – um es gleich zu sagen – überwiegt die Kritik an der Kanzlerin in zunehmender Schärfe.
Monika Maron zum Beispiel äußert sich der Tageszeitung DIE WELT und macht ihrem Ärger über einen Artikel von Thomas Schmid, ebenfalls in der WELT, Luft. "Jetzt reicht's mir aber", so der Tenor ihrer Worte. Schmid hatte, laut Maron, Merkels Politik und Politikstil erklärt und ihr zugestanden:
"Sie will Europa zu einem politischen Subjekt vereinigen und den Islam demokratisieren."
Das alles könne sie, weil sie selbst Migrantin sei, geht es (hier verkürzt) weiter im Schmid-Text. Dazu Maron:
"Es ist eine unsinnige Behauptung, alle Ostdeutschen wären Migranten, wie auch der Vergleich der ostdeutschen Flüchtlinge und später der von Ost nach West ziehenden Arbeitssuchenden mit der heutigen Migration von Millionen arabischer Muslime unlauter und absurd ist. Merkel ist also keine Migrantin. Sie blieb wie die meisten Ostdeutschen in ihrer Stadt, nur die Verhältnisse hatten sich geändert."
Schlagend Marons Argument:
"Niemand würde behaupten, dass die Polen, Tschechen, Ungarn, Slowaken heute alle Migranten im eigenen Land sind. Warum dann die Ostdeutschen?"
Merkels bescheidene Rhetorik
Maron wendet sich außerdem gegen eine andere Behauptung. Nämlich, dass Merkels Herz, und damit - wie Maron ergänzt, unser aller ostdeutsches Herz - nicht an dieser neuen Welt hinge, "weshalb wir funktionaler mit ihr umgehen können". Maron bekennt:
"Ich hänge an der verbürgten Freiheit des Wortes, an der Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, am Rechtsstaat und an der Demokratie, und ich leide, wenn auf diese Freiheit freiwillig verzichtet wird."
Merkel sei, wie sie sei, nicht so machtversessen, "beliebt in dem Unspektakulären, Uneleganten, sogar in der bescheidenen Rhetorik, in der die gemeinsame deutsche Seele mehr Seriosität zu erkennen glaube, als in einer entschiedenen Politik, die es wagt, den Bürgern die Wahrheit zuzumuten."
Kanzlerin Merkel ein Feigling? Das würde Günther Lachmann, ebenfalls in der WELT, unterschreiben. Er spart nicht mit Vorwürfen und Empfehlungen an die Kanzlerin:
"Sie muss jetzt das Flüchtlingsproblem in den Griff bekommen. Nur dann wird sie die nächsten Jahre politisch überstehen",
sagt er voraus. Er wirft ihr vor, dass sie gut eine Million Flüchtlinge ins Land lässt, "die zu über 90 Prozent Muslime sind" und in seiner Aufzählung:
"Ein nicht unerheblicher Teil davon Analphabeten und nicht wenige, der in der unüberschaubaren Menge Eingeschleusten im Verdacht, religiös extremistisch und gewaltbereit zu sein."
Seehofer als "Ventil" der Union
Zwischen Berichte über negative Vorkommnisse in Flüchtlingsunterkünften und "die ungebrochene Hilfsbereitschaft der Deutschen" mischt sich mittlerweile "die berechtigte Sorge, dass dieser Zustrom letztlich nicht mehr zu bewältigende Verhältnisse herbeiführen könnte. Der WELT-Autor befürchtet:
"Auf diese Stimmung setzen inzwischen nicht mehr nur Pegida und AfD-Landeschef Höcke in Thüringen, Bayerns Landesvater Horst Seehofer steht sinnbildlich längst neben ihnen auf den Barrikaden bürgerlicher Sturmtruppen."
Die Kanzlerin habe sich seiner Überzeugung nach für eine Vision eines anderen Deutschlands entschieden, wird Seehofer zitiert. Das sei Teil einer politischen Strategie, kommentiert Lachmann. Für ihn ist Seehofer "das Ventil der Union" für den sich anstauenden Unmut in der Bevölkerung, von dem die AfD profitiert, die in Sachsen derzeit gleichauf mit der SPD bei 13 Prozent liegt.
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG legt Christian Geyer zu. Er klagt die Kanzlerin an, den Flüchtlingsdiskurs treiben zu lassen,
"anstatt ihn mit klaren Ansagen zu den beschränkten Möglichkeiten kommunal zu erden."
Sie scheine zu übersehen, wie nahe Engagement und Enttäuschung beieinander liegen. Das humanistische Engagement der Bürger sei gefährdet, sobald es durch politischen Realitätsverlust enttäuscht wird. Er fragt besorgt:
"Möchte die Kanzlerin das wirklich? Den großen Umschlag von öffentlicher Willkommenskultur zum frustrierten Rückzug ins Private?"
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